Tradition war gestern: Warum der Fußball anders geworden ist
Haben Österreichs Fußballer dank oder trotz der Taktik von Teamchef Franco Foda bei der EM so tapfer mithalten können? So manch kritischer Alt-Internationaler tendiert eher zur Version zwei.
Wie auch immer – es scheint durchaus möglich, dass Alaba und Co. in einer Woche behaupten können, als einzige den neuen Europameister Italien in die Verlängerung gezwungen haben. Bei einer EM, die als die bislang sportlich attraktivste in Erinnerung bleiben wird.
Jahrzehntelang hatte sich der Schreiber dieser Zeilen speziell im Ski- und Leichtathletiklager vorwurfsvoll anhören müssen, dass „die von euch“ überbewerteten Kicker athletisch ganz schwach seien und viele nicht einmal eine Rolle vorwärts z’sammbringen. Inzwischen beherrscht fast jeder einen Salto rückwärts.
Muskelpakete wie der Belgier Romeo Lukaku gleichen im Highspeedmodus einer Computeranimation. Und wenn einer wie der Italiener Leonardo Spinazzola, der in der Vorrunde der nachweislich schnellste aller EM-Spieler war, mit gerissener Achillessehne liegen bleibt, wird er ausgepfiffen. Zumindest was das Verhalten des Publikums betrifft, hat sich nichts geändert.
Noch bei den Weltmeisterschaften 1954, 1958 und 1962 waren Spielertäusche (aktuell bis zu fünf möglich) verboten.
Noch in den späten 60er-Jahren, erinnert sich Ex-Teamchef Josef Hickersberger, durfte er als Spieler nach dem Training selbst bei Hitze maximal ein Glas Wasser trinken, was aus heutiger ärztlicher Sicht Harakiri mit Anlauf war.
Noch bei der WM ’74 wurde ein Australier als Wunderwuzzi bestaunt, weil er beim Outeinwurf den Ball bis in den Strafraum befördern konnte, eine Eigenschaft, die heute in jeder Elf zumindest einer beherrscht.
Noch 1982/’83 durfte sich der weltmeisterliche Flügelflitzer Bruno Conti sogar in der Kabine noch ein Zigaretterl anzünden, was dessen damaliger AS-Roma-Mannschaftskollege Herbert Prohaska (selbst Raucher) bestätigen kann.
Noch 1990 und 1998 bei Österreichs bis heute letzten WM-Teilnahmen war der ÖFB-Betreuerstab nicht halb so umfangreich gewesen wie jener soeben bei der EM.
Und noch zur Jahrtausendwende, als viele in Schilling kaum mehr bekamen als heute in Euro, war das Tempo manchmal so niedrig, dass sich Spieler nach Flanken den Ball seelenruhig stoppen konnten, ohne gleich attackiert zu werden.
Fachdeutsch
Um einen Shitstorm von Vergangenheitsglorifizierern zu vermeiden, sei hinzugefügt: Mit der Sportmedizin, der Ernährung, den technischen Mitteln (Videoanalysen usw.) plus Bällen und Schuhen von heute wären einstige Stars ähnlich gut wie die Jetzigen gewesen.
Der Fußball ist nicht besser, sondern vor allem anders geworden. So wie seine Sprache. Mit neuem Fachvokabular wie Restverteidigung, Box-to-Box-Player, zweiter Ball, Angriffspressing, Steckpass, Umschaltspiel, Raute usw. usf. wird von Analytikern zur Zeit nur so herumgeworfen. Und offenbar davon ausgegangen, dass jeder der 1,5 ORF- bzw. 15 Millionen ARD- und ZDF-Fußballkonsumenten über den Trainer-A-Schein verfügt. Und somit nicht irritiert ist, wenn vom Sechser, Achter oder gar von der „falschen Neun“ die Rede ist und der Mann in dieser Spielposition eine andere Nummer auf dem Trikot trägt.
Aber wem’s nicht passt, der kann auf Nummer sicher gehen. Indem er den Ton abdreht.
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