Den Weg von Brunn am Gebirge in den Prater kennt Aleksandar Dragovic in- und auswendig. Täglich wird er ab Mitte der 1990er-Jahre als Knirps von seinem Großvater Zlativoje zum Austria-Training gebracht. Ob er davon träumt, dass er ein Mal, nein 100 Mal im Nationalteam spielen würde? Weder er, noch sein Opa, der bis heute kaum von seiner Seite weicht. Umso mehr, nachdem Dragovics Mutter 2005 aus privaten Gründen auf die Karibikinsel Curaçao auswandert.
Die täglichen Fahrten zahlen sich aus. Mit nur 17 Jahren spielt er erstmals in der Bundesliga. Ein Jahr später feiert er sein Debüt im Nationalteam – gegen Serbien, in Belgrad. Der schönste Moment seiner Karriere, wie er sagt. Aber bei Weitem nicht das Ende der Fahnenstange.
Dragovic ist 19 Jahre alt, als er im Jänner 2011 zum FC Basel wechselt. Im Nationalteam hat er schon neun Partien auf dem Buckel und bildet mit Alaba und Arnautovic eine Dreierbande, die sich nicht entscheiden kann: Wer liegt mit wem im Zweibettzimmer? Mit der losen Matratze des Dritten auf dem Boden wird die Allianz gefestigt.
In Basel ist Dragovic sofort Stammspieler und gewinnt in einer Tour. Noch im selben Jahr spielt er in der Champions League gegen Manchester United und sein großes Idol Nemanja Vidic. Der 2:1-Sieg am letzten Spieltag gegen United sorgt international für Aufsehen. Basel steht im Achtelfinale, United muss in die Europa League.
Der Totalschaden
Der KURIER erreicht den euphorisierten 20-Jährigen am Telefon. Gefragt nach dem Duell mit Stürmerstar Wayne Rooney sagt er: „Ich hätte mir mehr erwartet. Diesmal war Rooney ein Totalschaden.“
Es ist nicht das letzte Mal, dass Dragovic den Mund sehr voll nimmt. Drei Monate später macht er einen Bauchfleck ins Fettnäpfchen. Nach einem 1:0-Sieg im Achtelfinal-Hinspiel gegen die Bayern posaunt er im Vorfeld des Rückspiels über das bevorstehende Duell mit Mario Gomez: „Er ist schnell, weiß wo der Ball hinfällt. Aber er macht nicht nur schöne Tore, viele sind Abstauber. Dass er nicht der größte Kicker ist, wissen wir.“ Ein gefundenes Fressen für die Bild-Zeitung und den Stürmer. Gegen die Bayern und David Alaba setzt es in München ein 0:7-Debakel. Gomez trifft vier Mal und verhöhnt Dragovic bei jedem einzelnen Torjubel – ein Tiefschlag. „Ich war jung und goschert und habe daraus gelernt“, sagt er später.
Mit Basel reitet er weiter auf der Erfolgswelle, wird zum besten Verteidiger der Liga und ins Team der Europa League gewählt. Nachdem es die Schweizer bis ins Halbfinale schaffen sucht Dragovic im Sommer 2013 nach dem dritten Meistertitel in Serie eine neue Herausforderung.
Wechsel nach Kiew
Die größten Bemühungen um den 22-Jährigen stellt Dynamo Kiew an. Dragovic träumt von der Premier League und winkt zunächst ab. Ihor Surkis, Klub-Präsident und einer der reichsten Männer in der Ukraine, lässt Dragovic im Juli 2013 nach Monaco einfliegen, steigt von seiner Jacht und überzeugt in einem Hotel den jungen Österreicher. Kiew überweist neun Millionen Euro Ablöse nach Basel, Dragovic unterschreibt einen Fünfjahresvertrag. Das Gastspiel in der Ukraine, das auch die Großeltern mitmachen, wird durch den politischen Konflikt im Land turbulent. Bei den Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz gegen den diktatorischen Präsidenten Janukowytsch werden über 100 Menschen wenige Minuten von seiner Wohnung getötet. Etwas anderes, als den Trainingsplatz und seine Wohnung sieht er länger nicht. „Ich bin in Kiew gereift. Auf und neben dem Platz.“
In dieser Zeit muss er sich nachsagen lassen, dass er nur des Geldes wegen in Kiew gelandet ist. Eine Unterstellung, die ihn erst recht antreibt. Er engagiert einen Medienberater und arbeitet mit Heinrich Bergmüller zusätzlich an seiner Fitness. Mehrmals lässt er den einstigen Konditionstrainer von Hermann Maier nach Kiew einfliegen und wird stärker und stärker. Im November 2014 folgt das vielleicht beste seiner 99 Länderspiele. Im vollen Prater räumt er nahezu alle Brasilianer aus dem Weg und erzielt bei der 1:2-Niederlage aus einem Elfer das erste ÖFB-Tor gegen die Seleção seit 41 Jahren.
Verpatzte EM
Dragovic ist aus dem Team, das auf dem Weg zur EM 2016 von Sieg zu Sieg eilt, nicht wegzudenken. Jedoch: die Endrunde wird zum Desaster. Dragovic muss nach einer Knöchelverletzung fitgespritzt werden, agiert – wie seine Kollegen – zum Auftakt gegen Ungarn unglücklich und fliegt mit Gelb-Rot vom Platz. Im letzten Gruppenspiel gegen Island setzt er einen Elfmeter an die Stange, Österreich ist draußen.
Der Transfer in eine Top-Liga gelingt wenige Wochen später dennoch: Leverkusen überweist 18 Millionen Euro nach Kiew. Während er in Deutschland und bei einem einjährigen Leih-Gastspiel bei Leicester City zwischen Spielfeld und Ersatzbank pendelt, bleibt er im Team Stammkraft und spielt 2021 eine starke zweite EURO. Obwohl ihn Kritiker nach dem Wechsel zu seinem Herzensverein Roter Stern Belgrad beim Team auf dem Abstellgleis sehen, bleibt er am Ball.
Vor Alaba und Arnautovic absolviert er am Dienstag sein 100. Länderspiel. Ob er danach neben Kumpel Arnautovic einschläft (Alaba ist schon abgereist), oder vom Opa heimgebracht wird, ist offen.
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