Der Letzte seiner Art: Als ein Österreicher Sportgeschichte schrieb
Werner Schlager reckt die Arme nach oben, der Schläger fällt ihm aus der Hand zu Boden. Es ist eine Mischung aus Freude und Unglauben, die im Gesicht des damals 31-Jährigen abzulesen ist. Im Hintergrund bricht im Palais Omnisport in Paris-Bercy tosender Jubel aus. Das Publikum, bestehend aus rund 13.000 Zuschauerinnen und Zuschauern, ist nicht länger auf den Sitzen zu halten, würdigt den Sieger mit Standing Ovations.
Wir schreiben den 25. Mai 2003. Werner Schlager hat sich gerade, nach hart umkämpften sechs Sätzen und mit einem 4:2-Erfolg gegen den Südkoreaner Joo Saehyuk, zum Tischtennis-Einzelweltmeister gekürt. Dass er damit Sportgeschichte schrieb, war bereits wenig später klar. Dass es aber wohl auch ein Erfolg für die Ewigkeit bleiben wird, kündigt sich erst 17 Jahre später an. Denn: Werner Schlager ist und bleibt wohl für alle Zeit der letzte nicht-chinesische Weltmeister seiner Sportart.
Doch alles der Reihe nach.
China und der ÖSV
China ist im Tischtennis das, was Österreich im Skisport lange Zeit war, bzw. nach dem Rücktritt von Marcel Hirscher endgültig einbüßte: Jene Nation, die eine Sportart über Jahre hinweg fast nach Belieben dominiert.
Während der ÖSV zuletzt aber stetig an Überlegenheit einbüßte und vergangene Saison hinter die Schweiz zurückfiel, ist China im Tischtennis nach wie vor und seit Jahrzehnten das Um und Auf. Ausreißer einzelner Länder ausgenommen geht die Vormachtstellung Chinas bereits mehr als 50 Jahre zurück. Das zeigt auch ein Blick auf die Statistik: So gingen seit 1970 nicht weniger als 38 von 50 möglichen WM-Titeln im Einzel an Spielerinnen und Spieler aus China. Die Frauen holten überhaupt 22 von 25 möglichen Trophäen.
Ein ähnliches Bild zeigt die Medaillenstatistik der letzten 50 Jahre: Mit 137 mal Edelmetall - von 199 möglichen - ist China gänzlich konkurrenzlos. Die zweiterfolgreichste Nation in dieser Zeit ist Schweden, mit 18 Medaillen bei den Herren und Frauen. Japan hat mit zwölf Medaillen ebenfalls einen Respektabstand. In den letzten 17 Jahren erreichte die Dominanz Chinas zudem ihren Höhepunkt, nach Schlagers WM-Goldenen ließ das Land keinen einzigen WM-Titel mehr liegen. Sei es bei den Herren, Frauen oder mit der Mannschaft.
Umso beeindruckender ist es daher, dass der letzte WM-Sieg eines nicht-chinesischen Spielers gerade auf das Konto eines Österreichers geht. Werner Schlager, heute 47 Jahre alt, befand sich 2003 auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere. Er ging als Nummer sechs der Weltrangliste in das Turnier und übernahm danach sogar für kurze Zeit die Führung. Der Sieg in Paris war daher alles andere als eine Überraschung. Wirklich rechnen konnte damit aber keiner.
"Er war der Liebling der Nation"
17 Jahre sind nun seit Schlagers Sternstunde vergangen. 17 Jahre, in denen es vor allem zuletzt sehr ruhig um den erfolgreichsten Tischtennis-Spieler Österreichs der letzten Jahrzehnte geworden ist. 2016 hatte er seinen letzten sportlichen Auftritt. Während sich Schlager eher rar machte, stieg sein langjähriger Doppel-Partner und Zimmer-Kollege, Karl Jindrak, 2018 zum Sportdirektor des heimischen Tischtennis-Verbands auf.
Die WM 2003 hat Jindrak noch gut in Erinnerung. Auch, wenn es sportlich für den Wiener nicht ganz nach Wunsch lief und sich das Duo Jindrak/Schlager im Viertelfinale den späteren Vize-Weltmeistern geschlagen geben musste. Teamkollege Werner Schlager war indes der Star und Liebling der französischen Nation. Das Publikum hatte den stoischen Österreicher schnell ins Herz geschlossen.
Die österreichische Delegation erlebte das Finale jedenfalls live und hautnah vor Ort mit. Der damalige Sportdirektor, Hans Friedinger, setzte alle Hebel in Bewegung, um für das Finale eine Loge zu ergattern. "Wir haben eine Unsumme dafür bezahlt", erinnert sich Jindrak. Geld, das sich aber mehr als bezahlt machte, schließlich wurde man Augenzeuge eines historischen Triumphes. Für Jindrak auch heute noch "ein unbeschreibliches Erlebnis."
Werner Schlager und die Liebe
Ein Erlebnis, bei dem - so kitschig es auch klingen mag - die Liebe eine wesentliche Rolle spielte. Denn Schlager war zur damaligen Zeit nicht nur sportlich und körperlich in Topform, sondern noch dazu frisch verliebt. "Meine Gedanken haben sich vor allem darum gedreht, wann ich meine Freundin wiedersehe, wann wir Zeit zusammen verbringen können", wird er 2013 im Berliner Tagesspiegel zitiert.
Jindrak kann das nur bestätigen: "Das war sicher ein ausschlaggebender Grund, wie er mit dem Druck umgegangen ist. Er war privat auf Wolke 7 und konnte daraufhin sein bestes Tischtennis spielen. Das kannst du nur, wenn du im Kopf komplett frei und ausgeglichen bist." Lebensgefährtin Bettina Müller, mit der Schlager heute zwei Kinder hat, reiste jedenfalls in den letzten Tagen extra nach Paris, um in der entscheidenden Phase des Turniers mit dabei zu sein.
Zimmerkollege Jindrak erlebte Schlager während der Weltmeisterschaft jedenfalls "extrem ruhig, überhaupt nicht nervös, komplett gelassen". Die Art des Niederösterreichers habe auf viele "auch ein wenig arrogant gewirkt, wenn er so introvertiert am Tisch stand und fast abwesend wirkte", erzählt Jindrak, "Aber da war er voll im Tunnel und hat sich auf sein Spiel konzentriert." So war Schlager für jeden Gegner schwer auszurechnen.
"Da wusste ich, das kann er nicht verlieren"
In Paris 2003 machte sich diese Ruhe und Konzentration jedenfalls bezahlt. Schlager nahm eine Hürde nach der anderen. Während der Deutsche Timo Boll, die damalige Nummer eins der Welt, bereits in Runde zwei ausschied, war der Österreicher auf dem Weg ins Finale nicht zu stoppen. Für Jindrak war der Viertelfinal-Sieg gegen den Chinesen Wang Liqin der Knackpunkt: "Nachdem er ihn geschlagen hat und das Publikum so hinter sich hatte, dachte ich mir, jetzt kann ihn nichts mehr aufhalten."
Schlager lag in diesem Spiel bereits 1:3 in Sätzen zurück, den vierten Durchgang hatte er denkbar knapp mit 13:15 abgegeben. Ein Satz fehlte dem Chinesen für den Halbfinal-Einzug. Doch Schlager kämpfte sich zurück, gewann am Ende noch mit 4:3. Danach zeigte auch der ansonsten so ruhige Niederösterreicher Emotionen. "Die Halle hat getobt, das war Wahnsinn", erinnert sich Jindrak.
Und die Zuversicht nahm in der Folge noch weiter zu. Als der Koreaner Joo Saehyuk nicht nur den Weltranglisten-Zweiten Ma Lin schlug, sondern im Halbfinale auch noch den Griechen Kalinikos Kreanga bezwang, war Schlagers Doppelpartner klar: "Da wusste ich, das kann der Werner nicht verlieren, wenn er ins Finale kommt." Der Grund: Saehyuk war als Defensiv-Spieler gefürchtet, mit Chen Weixing hatte Schlager aber einen Teamkollegen mit einem ähnlichen Spielstil. Der Österreicher war also perfekt auf seinen Finalgegner vorbereitet.
Ein Weltmeister-Titel für die Ewigkeit
Der Rest ist Sportgeschichte. Schlager gewann mit 4:2 und brachte nicht nur sich, sondern auch den österreichischen Tischtennis-Sport in die Schlagzeilen. "Das war für uns alle eine irre Sache. Höher hinauf geht es nicht", weiß Jindrak: "Das war der Höhepunkt, wie wir uns damals als kleine Tischtennis-Nation plötzlich mit einem Einzel-Weltmeister wiedergefunden haben." Im selben Jahr wurde Schlager auch zu Österreichs Sportler des Jahres gewählt. Und sogar in China wurde sein Erfolg gewürdigt: Er war dort 2003 "populärster ausländischer Sportler".
Schlager ist einer von nur sieben Tischtennis-Spielern in den letzten 50 Jahren, die Einzel-Weltmeister wurden und nicht aus China kommen. Und: Der Titelträger von 2003 wird wohl für alle Zeit der letzte bleiben, dem dieses Kunststück gelang. Denn wie Jindrak berichtet, wird es die Weltmeisterschaften im herkömmlichen Sinne bald nicht mehr geben. Der Internationale Verband (ITTF) krempelt um und orientiert sich zukünftig am Tennis. Sprich es soll Grand-Slam-ähnliche Turniere sowie ein Tour-Finale geben. "Aber eine Individual-WM wird die ITTF einstampfen", so Jindrak.
Die letzte Chance auf einen nicht-chinesischen Weltmeister dürfte es damit wohl 2021 geben, wenn in Houston in den USA die nächste Einzel-WM geplant ist. Wie und ob diese regulär stattfindet steht aufgrund der aktuellen Corona-Krise aber ebenfalls noch in den Sternen. Jindrak: "Man kann daher fast sicher sein, dass Werner der letzte nicht-chinesische Weltmeister geworden ist. Und das ist ja auch schon was."
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