KURIER: Nach 90 Jahren gibt es noch immer keine einheitliche Sicht auf den 12. Februar 1934: War es der Beginn eines Bürgerkriegs, war es ein Aufstandsversuch, eine Provokation der autoritären Regierung?
Andreas Khol: Ich habe da meine Meinung im Lichte der Publikation von Kurt Bauer geändert. Bei einem Symposion 2004 habe ich die von sozialdemokratischer Geschichtsschreibung forcierte Terminologie vom „Bürgerkrieg“ übernommen. Der Begriff war auch eine Möglichkeit, mit der Linken über das Thema ins Gespräch zu kommen – und so habe ich damals in der Diskussion mit Heinz Fischer vom Bürgerkrieg gesprochen. Ich habe dann später mit Kurt Bauer mehrmals diskutiert und schließe mich jetzt seiner Meinung an, dass es sich um einen Aufstand gehandelt hat. Nicht einen Aufstand der damaligen sozialistischen Partei, sondern um einen unbotmäßiger Funktionäre einer Nicht-Wiener Organisationseinheit, die zu den Waffen gegriffen haben.
War es also ein Aufstand des oberösterreichischen Schutzbunds, auch gegen die als zu tatenlos empfundene Wiener Parteiführung?
Kurt Bauer: Ja, es war ein Aufstand. Was ist ein Bürgerkrieg? Wenn man etwa an den Spanischen Bürgerkrieg denkt – mit Hunderttausenden Toten, jahrelangen Kämpfen, dann kann man das nicht vergleichen. Auch politikwissenschaftliche Definitionen sprechen ganz eindeutig dagegen, dass das im Februar 1934 ein Bürgerkrieg war. Es war ein Aufstand, der in einigen Teilen des Landes, in einigen Bezirken ausgebrochen ist, der sehr schnell beendet war.
Basis für dieses Interview war ein Streitgespräch der beiden in der Politischen Akademie. Andreas Khol ist ehemaliger Nationalratspräsident der ÖVP, Kurt Bauer ein Historiker, der sich besonders mit dieser Zeit auseinandergesetzt hat. Er wurde unter anderem mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet.
Die SPÖ wird am Montag, 12. Februar, ihr Gedenken an 1934 im Goethehof in Wien begehen. Mit ihrem Blickwinkel auf diese Ereignisse. Reden von Parteichef Andreas Babler und Bürgermeister Michael Ludwig stehen auf dem Programm.
Die sozialistische Parteiführung in Wien hat ja noch im letzten Moment versucht, die oberösterreichischen Schutzbündler von einem bewaffneten Widerstand abzuhalten …
Bauer: Otto Bauer wollte, nachdem er diesen Brief in der Nacht des 11. Februar bekommen hat, das stoppen – das wurde aber von der Polizei abgehört.
Hat es die Regierung darauf angelegt, diesen gewaltsamen Konflikt zu provozieren?
Bauer: Die Suche nach Waffen in Linz war keine Provokation. Aber insgesamt kann man ab Herbst 1933 beobachten, wie es immer mehr darum ging, die Sozialdemokraten in die Enge zu treiben. Und man muss dabei im Hintergrund immer an den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini denken – Mussolini hat Dollfuß sehr in diese Richtung gedrängt.
Was ist eigentlich zwischen März 1933 – nach der Ausschaltung des Parlaments – und dem Februar 1934 passiert?
Khol: Ich sehe es auch so, dass auf Druck von Mussolini der Druck auf die Sozialisten ständig erhöht wurde – in Richtung einer autoritären Regierung. Die sogenannte „Selbstausschaltung“ des Parlaments war eine Lahmlegung durch drei verantwortungslose Präsidenten, das Parlament war kurzzeitig nicht beschlussfähig, Bundeskanzler Dollfuß hat diese Situation ausgenützt und das Parlament ausgeschaltet. Dabei stand er ganz offensichtlich stark unter dem Eindruck der Wahlen in Innsbruck: 40 Prozent für die Nationalsozialisten im katholischen Tirol! Und noch etwas hat eine große Rolle gespielt: dass die schnell zu Demokratien gewordenen Monarchien in Europa vielfach in die Diktatur abgeglitten sind, etwa Polen, Rumänien, Ungarn, Italien … Es hat einen Schwund der Demokratie gegeben – so, wie wir ihn auch heute feststellen müssen.
Bauer: Man muss sich Dollfuß als zwischen Deutschland und Italien eingezwängt vorstellen. Dollfuß galt ja am Anfang als eher sozialistenfreundlich. Die Sozialisten dachten sich, ein Bauernpolitiker aus Niederösterreich – mit dem kann man reden. Die Machtübernahme Hitlers in Deutschland hat aber alles verändert, auch in Österreich.
Warum hat man nicht versucht, eine demokratische Allianz der Mitte aus Christlichsozialen und Sozialdemokraten zu bilden?
Khol: Es hat ein Koalitionsangebot an die Sozialdemokratie gegeben – das übrigens von Kreisky unterstützt wurde, der später die Ablehnung dieses Angebots als Fehler bezeichnet hat. Aber es hat an persönlichem Vertrauen zwischen der Führung der beiden Seiten gefehlt. Nach dem Februar 1934 ist die sozialistische Führung in die Tschechoslowakei geflohen, die sozialistische Seite war führungslos. Und man darf auch nicht vergessen, dass es sehr viele Überläufer von der Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus gegeben hat.
Bauer: Dollfuß hat einmal gesagt, die „Sozis“ lassen sich alles gefallen, weil sie sich sagen: immerhin sind es nicht die Nazis. Deswegen seine Taktik der kleinen Schritte – denn wenn man zu schnell vorgeht, bringt das die Leute zum Kampf.
Wie muss man sich die Gemengelage innerhalb der Sozialdemokratie in dieser Zeit vorstellen?
Bauer: Es gab eine starke Linke. Und die jungen Linken sind vielfach ab 1933 abgedriftet ins kommunistische Lager. Die einzige Zeit, in der in Österreich die Kommunisten eine Rolle spielten – in der Illegalität.
Khol: Abgesehen von den Kommunisten waren alle Parteien von illegalen Nationalsozialisten unterwandert. Die Heimwehren sowieso, auch die Christlichsozialen, die Sozialdemokraten … Wenn es in Innsbruck 42 Prozent für die Nazis gibt, können die ja nicht alle von den Christlichsozialen gekommen sein.
Bauer: In Wien waren die Nazis eine Akademiker-Partei – natürlich ohne die damals zahlreichen jüdischen Akademiker. Es gibt eine hochinteressante Untersuchung über die NS-Wähler in Deutschland. Da zeigt sich: die Resistenz gegen die Nazis ist am stärksten im Westen und vor allem im Süden. Der stärkste Anti-NS-Faktor überhaupt ist das katholische Milieu. Das einzige deutsche Bundesland, das 1932 keine NS-Mehrheit hatte, war Bayern.
Khol: Das mit dem akademischen Milieu geht auf die Deutschnationalen im 19. Jahrhundert zurück. Das Deutschnationale war im universitären Bereich sehr stark ausgeprägt. Aber es gab nationale Sozialisten, nationale Christlichsoziale, nationale Landbündler. Die Bastionen waren der Katholizismus und die Landwirtschaft, und die linke Arbeiterbewegung.
Hätte man nach Beendigung der Kämpfe durch einen Akt der Milde die politische Stimmung ändern können – und waren die standrechtlich verhängten Todesurteile nicht ein schwerer Fehler?
Khol: Das war ein schwerer Fehler, das ist absolut zu verurteilen. Da war der Hass dahinter – und das hat sehr viel dazu beigetragen, dass eine Unversöhnlichkeit entstanden ist.
Hat das auch zum Mythos des 34er Jahrs beigetragen?
Bauer: Jeder Mythos ist ein Opfermythos – es geht immer um Tod und Auferstehung …
Der „Karfreitag“ der Sozialdemokratie …
Bauer: Ja, es war die größte Katastrophe in der Geschichte der Sozialdemokratie. Und das lebt bis heute fort – auch wenn niemand mehr lebt, der das miterlebt hat.
Khol: … und die Dollfuß-Frage ist noch immer nicht historisiert. Dollfuß regt nach wie vor auf, siehe die Debatte um das Museum.
1964 gab es eine gemeinsame Kranzniederlegung von Bundeskanzler Alfons Gorbach (ÖVP) und Vizekanzler Bruno Pittermann (SPÖ). Das war 30 Jahre nach den Ereignissen. Heute, 90 Jahre später, ist so eine gemeinsame Aktion schwer vorstellbar …
Khol: Es ist schwierig, verschiedene Zeiten zu vergleichen. Das war damals die Blütezeit der Großen Koalition, die letztlich bis zum EU-Beitritt angehalten hat. Seitdem ist eine Verschlechterung eingetreten. Diese gemeinsame Gesprächsbasis ist weitgehend verloren gegangen. Ich erlebe das von außen so, dass gerade in den letzten Jahren die Auseinandersetzung personalisiert wurde, da ist viel Unversöhnlichkeit. Ich glaube, mit Pamela Rendi-Wagner wäre das denkbar gewesen. Aber ob Karl Nehammer mit Andreas Babler gemeinsam einen Kranz niederlegen würde? Ich würde mich freuen darüber. Denn die Zeit ist längst über diese Dinge hinweggegangen. Wer immer hier noch auf diesem Klavier spielt, macht das nicht in der Absicht des Gedenkens, sondern in der Absicht, die Geschichte als Keule zu verwenden, um dem anderen auf den Schädel zu schlagen.
Was bedeuten die Ereignisse heute noch?
Khol: Einen politischen Konsens kann es nur geben, wenn alle Beteiligten dazu bereit sind. Ich fand bemerkenswert, dass Karl Nehammer gemeint hat: egal, ob man das Dollfuß-Regime „austrofaschistisch“ nennt oder nicht – es sei jedenfalls abzulehnen. Die Historisierung des Februar-Aufstands ist nur zu erreichen, wenn man auch über Dollfuß größere Klarheit gewinnt – und auch eingesteht, dass es eine Diktatur war. Und es gibt auch von der anderen Seite bemerkenswerte Gesten.
Bauer: Ich habe selbst bei meinem Buch sehr viel Widerstand erfahren. Mein Anliegen war eine neutrale Darstellung. Es wird aber nach wie vor wenig dazu geforscht. Und es gibt nach wie vor eine Einzementierung: Wenn Sie sagen „Kanzlerdiktatur“, sind Sie ein Schwarzer, während „Austrofaschismus“ der linke Kampfbegriff ist. Nach 90 Jahren kann man noch immer nicht ohne Zorn und Eifer über diese Ereignisse sprechen.
Khol: Was mich allerdings wundert, ist, dass der ORF nur mehr von „Austrofaschismus“ spricht …
Bauer: Das ist mir auch aufgefallen. Generell sind die Medien sind sehr linkslastig, und damit setzt sich das durch – obwohl viele das sicher anders sehen.
Khol: Dass Sie als Wissenschafter das sagen – ich hätte mich das nicht getraut …
Bauer: Der Mythos 1934 lebt jedenfalls weiter. Aber das ist ja das Wesen von Mythen, dass sie sehr schwer tot zu kriegen sind.
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