Vielen fehlen ja heute die Voraussetzungen, um die Fragen, die Sie in dem Buch besprechen, etwa die Unterschiede zwischen Christentum und Judentum überhaupt verstehen zu können …
Spera: Ich glaube, es ist wichtiger denn je, dass wir uns mit diesen Fragen beschäftigen, denn wir sehen ja, was aktuell passiert. Das Problem ist auch, dass man viel zu wenig voneinander weiß, und dass man sich gar nicht die Mühe macht, sich damit auseinanderzusetzen. Wenn wir etwa an die Geschichte Israels denken: Wie ist das Land entstanden? Wenn heute Leute sagen, Juden hätten 1948 das Land besetzt, dann frage ich mich schon, wo da die Bildung geblieben ist. Wir wollten in unserem Gespräch all diese Fragen herunterbrechen. Ich bin ja immer wieder verwundert, dass in einem katholischen Land wie Österreich viele Menschen gar nicht mehr wissen, was zu Weihnachten oder zu Ostern eigentlich gefeiert wird. Im Judentum begehen wir die Feiertage immer im Bewusstsein dessen, was dahintersteht. Wir erinnern uns dabei an die Ereignisse der jüdischen Geschichte.
Faber: Das Wissen um die Wurzeln unseres Glaubens verdunstet zunehmend. Es ist auch in vielen Köpfen noch die alte „Substitutionstheorie“ drinnen: dass also die Kirche das Volk Israel abgelöst, ersetzt hätte und der „neue“ Bund den „alten“ mit Israel obsolet gemacht hätte. Ich habe selbst zu Beginn meines Studiums noch so gedacht und bin erst später draufgekommen: der „alte“ Bund Gottes mit „seinem“ Volk Israel gilt nach wie vor. Wir, die Kirche, sind als Reis auf einem Stamm eingepfropft und dürfen als jüngere Geschwister teilhaben an den Verheißungen Gottes: Ich gehe mit euch durch alle Zeiten bis zum Ende der Welt. Daraus erwächst eine große Bereitschaft in dieser großen Familie eine gemeinsame Verantwortung wahrzunehmen. Dazu gehört auch, das Gemeinsame zu sehen, aber auch das, was uns trennt, vor allem die Person Jesu betreffend.
Spera: Die theologische Forschung hat gezeigt, dass es nicht einfach mit dem Tod Jesu eine neue Religion gab. Das hat sich über Jahrzehnte bis Jahrhunderte erst entwickelt und formiert. Auch darüber haben wir gesprochen: wie diese Entwicklung gelaufen ist, wo man sich vom Judentum strikt getrennt hat und warum.
Faber: Es gab ja auch ein Ringen innerhalb der jungen christlichen Gemeinde, der jesusgläubigen Juden mit den Exponenten Petrus und Paulus: Was von den jüdischen Geboten soll weiter gelten, was aufgegeben werden? Paulus war dann der, der auch die Heiden für den Glauben an Jesus gewinnen wollte – von denen konnte und wollte man aber nicht verlangen, dass sie alle jüdischen Gebote übernehmen.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen dem christlichen Antijudaismus, dem rechten Antisemitismus und dem zuletzt im Fokus stehenden muslimischen Antisemitismus?
Spera: Unterm Strich, muss ich leider sagen, bleibt alles gleich: es richtet sich immer gegen Juden, ob wir das nun Antijudaismus, -zionismus oder -semitismus nennen. Wir hatten gehofft, dass das überwunden ist – das war ein ganz großer Irrtum und hinterlässt uns erschüttert. Es ist eine tiefe Wunde, wie dieser 7. Oktober eine tiefe Wunde ist, die nie verheilen wird. Aber ich frage mich immer, warum bei anderen Ländern nicht dieselben Maßstäbe angelegt werden, wie bei Israel.
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Faber: Wir müssen die antijudaistischen Traditionen im Christentum benennen und offenlegen. Die katholische Kirche hat sich vor 60 Jahren dazu bekannt, jede Form von Antijudaismus oder -semitismus zu brandmarken und klar zu sagen: das hat nichts mit unserem christlichen Glauben zu tun.
Haben wir über der Fixierung auf den überkommenen Antisemitismus jenen, den wir teilweise aus islamischen Ländern importiert haben, übersehen?
Spera: Es kommen Jugendliche zu uns, die antisemitisch erzogen sind, für die Juden und Israel ein erklärtes Feindbild sind. Hier muss man bewusst ansetzen und sagen: Wir leben hier in Österreich, in einer komplett anderen Situation als im Nahen Osten; der Nahostkonflikt hat bei uns nichts zu suchen. Wer hier lebt, muss sich mit der österreichischen Geschichte auseinandersetzen – und dazu gehört auch die österreichisch-jüdische Geschichte. Gerade Wien und das Judentum sind eng verwoben. Das gilt es zu vermitteln. Das habe ich auch immer im Jüdischen Museum versucht und muslimische Jugendliche angesprochen: Die haben zum ersten Mal von der Shoah erfahren, haben erfahren, was es bedeutet, österreichischer Jude zu sein. Diese Jugendlichen sind dann draufgekommen: Das sind ja auch Menschen, die ihre Heimat, ihre Familie verloren haben. Da kann man dann einen wirklich guten Dialog beginnen.
Teilen Sie den Eindruck, dass die christlichen Stimmen zum gegenwärtigen Nahostkrieg tendenziell propalästinensisch sind?
Faber: Wir haben natürlich eine große Empathie für christliche Palästinenser, die unsere Hilfe benötigen. Wir sind aber meines Erachtens nicht in die Falle getappt, eine antiisraelische Politik zu unterstützen. Jetzt sind wir darüber erschüttert, dass ein beispielloser Terrorangriff auf Israel gegengerechnet wird mit den israelischen Verteidigungsmaßnahmen. Aber da kann es kein Aufrechnen geben – da kann es nur ein klares Ja geben zum Existenz- und zum Selbstverteidigungsrecht Israels. Natürlich gibt es den Wunsch nach einer Zweistaatenlösung, die seit Jahrzehnten nicht funktioniert und auch künftig schwer realisierbar sein wird. Und natürlich ist das Leid von Kindern, von Zivilisten zu benennen. Aber nicht im Sinne einer Relativierung, dass es auf beiden Seiten Leid gebe und man grundsätzlich gegen jede Form von Gewalt sei. Nein, angesichts von Terror und Infragestellung all unserer Werte, die wir als aufgeklärter Westen vertreten, muss es eine klare Kante geben.
Spera: Israel ist eine Demokratie, dort haben alle Religionen Platz – im Unterschied zu den Nachbarländern. 20 Prozent der Bevölkerung sind Araber, die sind komplett integriert, in allen Bereichen tätig, es gibt arabische Parteien in der Knesset. Das vergessen viele oder wissen es nicht.
Oft wird von den jüdisch-christlichen Wurzeln Europas oder des Westens gesprochen. Das kann man als Ausdruck der Wertschätzung des jüdischen Anteils an unserer Tradition sehen, es gibt aber auch die Kritik, dass dies eine Vereinnahmung christlicherseits sei, welche die Bruchlinien übertünchen wolle.
Spera: Diese Brüche hat es natürlich gegeben, vor allem in Österreich – man denke an die Gesera von 1421, an weitere Verfolgungen und Vertreibungen. Es gibt aber ebenso tiefe Gemeinsamkeiten, so viele Dinge, die im jüdisch-christlichen Dialog entstanden sind, vieles, wo das Judentum die Kultur unglaublich befruchtet hat. Daher glaube ich, dass wir durchaus von jüdisch-christlichen Wurzeln sprechen können.
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Faber: Wir müssen diese Bruchlinien kenntlich machen und in Erinnerung halten. Da ist auch viel passiert. Das ist das Wunder der jüdisch-christlichen Hoffnung: dass es einen Neuanfang geben kann, nicht nur aufzurechnen, sondern aus der Erfahrung der Schuldgeschichte zu versuchen, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Das ist uns Gott sei Dank im jüdisch-christlichen Dialog in Österreich und auch da und dort weltweit gelungen. Und unser Gespräch soll dazu auch ein Beitrag sein.
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