Liebevoll sei die Mutter, Rosa Schwarz, nie gewesen, erzählt Gabrielsen im KURIER-Gespräch. Im Gegenteil. Die Kinder seien viel geschlagen worden. „Der Pracker ist gleich neben der Tür gehangen, beim kleinsten Vergehen wurden wir damit verprügelt“, sagt Gabrielsen. Alle Kinder hätten Angst vor der Mutter gehabt. Liebesbekundungen oder Umarmungen hätte es nie gegeben. Gabrielsen spricht von Rosa Schwarz trotzdem als „Mama“.
"Der Jud' muss weg"
Vor dem Anschluss 1938 sei alles besser gewesen. Die Familie sei zwar arm gewesen, aber „es ging uns trotzdem gut“. Mit der steigenden Aggression gegen Juden entfremdete sich Mutter Rosa aber zusehends von ihrem jüdischen Mann. „Der Jud’ muss weg“, soll sie immer wieder gesagt haben – zu ihren Kindern, aber auch in der Nachbarschaft. Wenige Jahre später setzte sie diese Drohung in die Tat um.
In ihrer Heimatstadt Wien war Gabrielsen seit rund 50 Jahren nicht mehr. Derzeit ist sie aber auf Besuch – auf Einladung von ESRA und des Jewish Welcome Service. Nach der Befreiung kam sie in mehrere Pflegefamilien und schließlich nach Norwegen – und fand dort eine neue Heimat. Wie gut sie sich dort aufgehoben fühlt, zeigt sich bei einer Veranstaltung, bei der sie vor rund 300 Menschen von ihren Erfahrungen berichtet. Sie tritt in norwegischer Tracht auf. „Ich wurde von hier weggeschickt und jetzt sind so viele gekommen, die meine Geschichte hören wollen“, sagt sie. „Ich bin im siebenten Himmel.“
Glücksgefühle und Tränen – beides wechselt sich während ihres Besuches immer wieder ab.
Verrat sei im Nationalsozialismus kein Einzelfall gewesen, erklärt Politikwissenschafterin Nina Scholz, die ein Buch über die Funktion von Denunziationen im Nationalsozialismus geschrieben hat. „80 Prozent aller Gestapo-Ermittlungen gehen auf Hinweise aus der Bevölkerung zurück“, sagt Scholz.
Persönliche Vorteile
Das zeigten Gestapo-Akten aus Deutschland, in Wien sei der Großteil vernichtet worden. Die Gründe seien vielfältig. Manche Denunzianten hätten die antisemitische Gesinnung der Nazis geteilt, andere hätten den Verrat genutzt, um daraus persönliche Vorteile zu ziehen.
So wie Rosa Schwarz, die ihre Familie denunzierte, um den Mann heiraten zu können, mit dem sie in den Kriegsjahren ein Verhältnis angefangen hatte. Ein „glühender Nationalsozialist“, wie Gabrielsen sagt.
Vom Vater, Michael „Mischko“ Schwarz, spricht sie nur in höchsten Tönen. Schneider sei er gewesen, bevor er von den Nazis zur Zwangsarbeit in Kohleminen verdonnert wurde. „Ich bin oft bei ihm in der Schneiderei gesessen. Er hatte immer ein Lächeln für mich.“
Als die Mutter dem Vater den Zutritt zur Wohnung verweigerte, reichte ihm Gabrielsen gemeinsam mit einer ihrer Schwestern heimlich einen Sack mit seinen Habseligkeiten durchs Fenster. „Das war schlimm“, sagt sie. „Im Nachhinein ist es aber noch schmerzhafter, weil es eines der letzten Male war, dass ich ihn gesehen habe.“ Mischko wurde im Jahr 1943, nachdem ihn seine Frau wegen vermeintlicher „anti-nazistischer Tätigkeiten“ angezeigt hatte, nach Auschwitz deportiert. Am 25. November desselben Jahres wurde er dort ermordet.
Seine Frau ließ sich umgehend den Totenschein schicken, um ihren neuen Mann heiraten zu können. Die Kinder denunzierte sie bald danach – unter anderem, weil sie ohne „Judenstern“ aus dem Haus gegangen waren. Die drei Älteren wurden von der Gestapo verhört, die Jüngeren, darunter Gabrielsen, wurden zunächst in ein jüdisches Kinderheim gebracht. Im Jahr 1944 wurden alle sieben gemeinsam ins KZ Theresienstadt überführt.
Gabrielsen kann sich an den Tag noch genau erinnern. „Ich war krank und wurde vom Spital ins Kinderheim gebracht. Dort war ein weißer Sack mit meinen Sachen. Niemand von den Erwachsenen hätte etwas erklärt, nur Tränen in deren Augen hätte sie gesehen. „Diesen Moment, als mir gewusst geworden ist, dass ich jetzt weggeschickt werde, bin ich später nicht mehr losgeworden“, sagt sie. „Es hat mich eingeholt, besonders in der Nacht, wenn es still war.“ Alle sieben Schwarz-Kinder überlebten Theresienstadt. Das sei ungewöhnlich, erklärt Scholz. Von 10.000 Kindern, die dorthin deportiert worden waren, überlebten nur rund 1.600.
Die sieben Geschwister wurden nach der Befreiung in unterschiedlichen Familien untergebracht, auch in unterschiedlichen Ländern. Zum Teil verloren sie sich aus den Augen.
Wiedervereinigung am Friedhof
Eine ihrer Schwestern, Hilda Reisner, besucht Gabrielsen bei ihrem Wien-Aufenthalt an ihrem Grab. Dass das möglich ist, ist der Recherche des Stadt- und Landesarchivs zu verdanken. Während einer Fahrt nach Simmering, wo Gabrielsen aufgewachsen ist, langt ein Anruf ein: „Wir können bestätigen, dass sich in Meidling das Grab ihrer Schwester befindet.“
Es geht darum weiter zum Friedhof Südwest in Meidling. Das Grab ist gepflegt. Es berührt Gabrielsen sichtlich, dass ihre Schwester Familienmitglieder hat, die sich auch nach dem Tod um sie kümmern. Sie hat selbst auch Blumen mitgebracht, die sie dazu in eine Vase steckt – gemeinsam mit einer Notiz an Hildas Verwandte, dass sie sich über eine Kontaktaufnahme freuen würde (siehe Infobox). Paradoxerweise liegt Gabrielsens Mutter nur ein paar Grabreihen weiter. Nach etwas Bedenkzeit will sie auch das sehen. Rosa Schwarz wurde nach dem Krieg der Prozess gemacht – unter gewaltigem Medienecho.
Die heimische Presse bezeichnete sie unter anderem als „Bestie“. Ihre Strafe fiel mit „fünf Jahren schwerer Kerker“ aber mild aus, entlassen wurde sie sogar nach zwei Jahren. Sie versuchte später an Opferschutzzahlungen wegen des KZ-Todes ihres Mannes zu kommen. Dies flog aber auf, weil die Kinder schon ausgezahlt worden waren.
„Ich fühle gar nichts, ich bin nicht traurig“, sagt Gabrielsen. Wie es im Judentum Brauch ist, legt sie aber einen Stein auf das Grab ihrer Mutter. Maria Gabrielsen hat überlebt. Und noch mehr. Sie wird von großen Teilen ihrer sie liebenden (das ist offensichtlich) Familie begleitet. Sie hat einen Mann, zwei Kinder, drei Enkeltöchter und fünf Urenkelkinder.
Als das bei der Podiumsdiskussion gesagt wird, gibt es Standing Ovations.
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