Warum die Bürgerliche Mitte den "Eliten" nicht mehr traut
Das Auto, der Italienurlaub, das Einfamilienhaus mit Garten und Grill: Österreichs Mittelstand ist konsumorientiert und materialistisch. Und zwar seit den 1960er-Jahren, als sich der gut situierte Mittelstand laut Sozialforscher Bertram Barth, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Integral, etabliert hat.
Doch was gilt heute als Mittelstand? Und wie reagiert dieser auf Krisen und Fortschritt?
Angst vor dem Abstieg
Schon eine ökonomische Definition ist komplex. Meist erfolgt sie anhand relativer Einkommensgrenzen. „Aus ökonomischer Sicht spielt zudem das Vermögen, wie Eigentum oder Ersparnisse, eine Rolle“, sagt Ökonomin Judith Derndorfer von der WU Wien.
Ökonomische Faktoren sind auch in der Sozialforschung wichtig, werden dort aber mit soziokulturellen kombiniert. „Was die Mitte üblicherweise kennzeichnet, ist die Anpassung nach oben und die Abgrenzung nach unten“, sagt Barth. „Die Abgrenzung nach unten wird umso wichtiger, als dass sich die Mitte ihres Wohlstands nie sicher sein kann und den sozialen Abstieg befürchtet.“ Heißt: Die Mitte kann nie so viel Kapital anhäufen, dass sie absolute Sicherheit für die Zukunft hat. „Sie muss sich gegen den Abstieg absichern“, sagt Barth.
Angestellte, Beamte, Facharbeiter
Die Sozialforschung unterteilt gesellschaftliche Gruppen mit ähnlichen Grundwerten – traditionell, modern, neuorientiert – und einer vergleichbaren sozialen Lage in sogenannte Sinus-Milieus. Kurz gesagt: in Personengruppen mit vergleichbaren Eigenschaften. Zwei Sinus-Milieus fallen laut Barth in Gruppe des Mittelstands: die Bürgerliche Mitte und die sogenannten Adaptiv-Pragmatischen. Die Gruppen verfügen über ein ähnliches Einkommen. Ihre klassischen Berufsfelder: mittlere Angestellte, Beamte, Facharbeiter. Zudem sympathisieren sie mit alten Rollenbildern. Also etwa der Frau, die lieber bei den Kindern bleibt, als arbeiten zu gehen. Und: Die Mitte ist im ländlichen Raum stärker vertreten als in der Stadt.
Dennoch unterscheiden sich die zwei Milieus in einem entscheidenden Punkt. Und zwar in der Bereitschaft, sich mit Entwicklungen und Veränderungen zu arrangieren.
Die Bürgerliche Mitte
Die alte Bürgerliche Mitte gilt als klassischer Mittelstand – fleißig, angepasst, systemkonform. Sie soll die Gesellschaft stabilisieren, das System tragen. Das Problem: „Die alte Bürgerliche Mitte will in eine vermeintliche Normalität zurück, in der alles klar war und es Sicherheiten gegeben hat. Sie will, dass die Welt so wird, wie sie nie war“, meint Barth.
Die Bürgerliche Mitte sei zudem davon ausgegangen, dass sie sich ihren Lebensstandard sichern kann, wenn sie nur brav und angepasst ist. „Im Laufe der Jahre hat sich herausgestellt, dass das so nicht stimmt. Die Bürgerliche Mitte ist zunehmend verbitterter und resignierter geworden“, erklärt Barth.
Deshalb fühle sie sich von den politischen Eliten und den Medien unbeachtet sowie verraten. Das Resultat: „Historisch kann man sagen, dass der Populismus in Europa aus der Bürgerlichen Mitte heraus entstanden ist.“
Rechtspopulistische Erzählungen über die korrupte, verdorbene Elite, die das fleißige, tüchtige Volk nicht richtig führen kann oder will, fallen bei den Bürgerlichen auf fruchtbaren Boden. „Wir haben Untersuchungen gehabt, wo weit mehr als die Hälfte dieses Milieus FPÖ-Wähler waren“, sagt Barth. Inzwischen habe es die FPÖ sogar für viele Vertreter der Bürgerlichen Mitte zu weit getrieben, weshalb diese derzeit politisch durch eine gewisse Heimatlosigkeit gekennzeichnet sei.
Die neue Mitte
Die Adaptiv-Pragmatischen gelten hingegen als „neue Mitte“. Sie haben einen etwas höheren Bildungsgrad, sind etwas jünger. Wesentlicher Unterschied: Sie arrangieren sich mit den Unsicherheiten der modernen Zeit, ziehen bei Entwicklungen wie der Digitalisierung mit. „Sie haben die Bedürfnisse der Mitte nach Absicherung, sind aber flexibel und anpassungsbereit“, so Barth.
Während die Bürgerliche Mitte in der Corona-Krise zu großen Teilen in Verschwörungserzählungen abgedriftet sei, hätten die Adaptiv-Pragmatischen etwa der Impfpflicht eher zugestimmt. Zwar sehe man auch bei den „Pragmatischen“ eine gewisse Affinität zur Rechten, grundsätzlich unterstützen sie aber staatstragende Parteien, wählen historisch betrachtet ÖVP oder SPÖ.
Wie lange das wohl noch so bleibt? Aktuelle Krisen wie die Pandemie, der Ukraine-Krieg und die Teuerung treffen den Mittelstand besonders hart.
Warum? Aus soziologischer Sicht ist in Zeiten wie diesen die Mitte wohl jene Bevölkerungsgruppe, die unter der größten Unsicherheit leidet: Angst vor Arbeitslosigkeit, Verlust des ohnehin nicht üppigen Vermögens, Angst vor sozialem Abstieg. „Besonders verunsichert sind nicht die, die sowieso nichts haben, sondern die, die etwas haben, es aber verlieren können“, sagt Barth.
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