So frisst sich die Rekordinflation in den Mittelstand hinein
In Wahlkampfzeiten wird die gesellschaftliche Mitte mit Millionen umworben. Dort tummeln sich die meisten Wähler, abseits der Ränder ist am meisten „zu holen“.
Derzeit wird aus wirtschaftlicher Sicht über Wohl und Weh des Mittelstandes diskutiert, weil die Bevölkerung unter einer Rekordinflation leidet, die sich auf kurz oder lang auch in „mittlere“ Gesellschaftsschichten hineinfrisst. Das wiederum verbreitert tendenziell den unteren gesellschaftlichen Rand – was Wohlstandverlierer und Absteiger leicht zu Protest- oder Nichtwählern und daher auch wieder politisch bedeutsam macht.
Klar ist auch, die Teuerung trifft Arm und Reich sehr unterschiedlich. Die einen müssen den Alltag überstehen und stöhnen unter kräftig gestiegenen Heizkosten und Nahrungsmittelpreisen. Bei anderen geht es um höhere Ausgaben für den Hausbau, die nächste Urlaubsreise oder um die Leasingrate für das größere Auto.
"Fast jeder fühlt sich dem Mittelstand zugehörig"
So unterschiedlich Lebenssituationen sind, so vage bleiben Definitionsversuche, wer eigentlich aller zum Mittelstand oder zur sogenannten Mittelschicht gehört.
Der gängigste Weg führt über das Einkommen, allein schon deshalb, weil es dafür halbwegs brauchbare Statistiken gibt. Ein Monatseinkommen von 2.500 Euro netto erlaubt aber einmal ein halbwegs gutes Auskommen, ein anderes Mal vielleicht ein gerade so Durchkommen. Denn dieselben 2.500 Euro bedeuten je nach Haushaltsgröße (Alleinverdiener oder zwei Einkommen, Kinder oder nicht), Wohnsituation (Miete oder Eigentum), Vermögenslage (Sparbuch, Erbe) und anderen Faktoren (Alter, Gesundheit) völlig unterschiedliche Lebenssituationen.
WIFO-Expertin Christine Mayrhuber sagt, eigentlich müsste man Einkommen, Vermögen und das jeweilige Konsumniveau heranziehen, um eine sinnvolle Aussage treffen zu können. „Den Mittelstand zu definieren, ist nicht trivial.“
Auch Ungleichheitsforscher Wilfried Altzinger von der WU Wien sagt: „Mittelstand ist ein grenzenlos überstrapazierter und rein politisch definierter Begriff. Nahezu jeder fühlt sich dem Mittelstand zugehörig.“
Ganz grob gilt: Wer eine kleine Pension bezieht, wer auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe angewiesen ist oder nur den Mindestlohn verdient, zählt zu den Armen und Armutsgefährdeten. Die untere Mittelschicht bezieht ein mehr oder weniger ausreichendes Erwerbseinkommen. Wer zusätzlich Vermögen hat, zählt zur oberen Mittelschicht oder dank Erbschaft, Dividenden und Firmengewinnen überhaupt zu den „oberen Zehntausend“.
Wo die Grenzen zwischen „arm“, „mittel“ und „reich“ verlaufen, ist ein ewiger Definitionsstreit. Eine Annäherungsmethode ist in der Grafik abgebildet. Dazu werden die vier Millionen Haushalte in Österreich in zehn Gruppen (Dezile) zu je 400.000 Haushalte unterteilt und dann wird geschaut, in welche Einkommensgrenzen diese Haushalte fallen. Die ärmsten zehn Prozent aller Haushalte (egal welcher Größe) müssen nach dieser Statistik mit maximal 16.219 Euro netto im Jahr auskommen. Den nächsten zehn Prozent steht netto maximal 22.497 im Jahr zur Verfügung und so weiter. Das oberste Dezil beginnt bei 82.907 Euro, ist aber nach oben offen. Denn echter Reichtum ist ganz etwas anderes und betrifft maximal fünf Prozent der Bevölkerung.
Zwischen 60 und 180 %
Die Wissenschaft will es freilich genauer wissen und nutzt dazu beispielsweise das Netto-Haushaltseinkommen von rund 40.000 Euro pro Jahr als Messgröße.
Jene 14 Prozent aller Haushalte mit weniger als 60 Prozent dieses Medianeinkommens gelten in Österreich als „arm“. Jene neun Prozent mit mehr als 180 Prozent vom Medianeinkommen gelten als „reich“ und die 77 Prozent dazwischen wären dann der Mittelstand.
Grenzt man hingegen nach der Vermögensverteilung ab, zeigt sich: Die „arme“ Hälfte der Gesellschaft besitzt nur vier Prozent des Vermögens. Die nächsten „mittleren“ 40 Prozent haben 36 Prozent des Kuchens (v. a. Haus- und Wohnungseigentum) und die oberen zehn Prozent besitzen 60 Prozent des Gesamtvermögens.
Altzinger: „Da bekommt man also ganz andere Werte, weil fast die Hälfte der Österreicher eben gar kein Vermögen besitzt. Die Polarisierung ist bei Vermögen dramatisch stärker als beim Einkommen.“
Und mit der Inflationskrise beginnt nun die befürchtete Erosion des (unteren) Mittelstandes, dort herrscht die Angst vor dem Abstieg. Wenn das wenig Ersparte dahinschmilzt, wenn die Kreditraten steigen, wenn die spätere Pension als unsicher gilt, wenn das früher gute Einkommen plötzlich Monat für Monat kaum mehr ausreicht. Und die schlechten Nachrichten einfach nicht abreißen.
Es ist banal, aber ohne Vermögen gibt es eben auch keine Reserven, auf die man zurückgreifen kann – da darf nichts passieren.
Die untere Mitte hat kein Vermögen
Das hat Corona gezeigt, als die schlimmsten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie mit staatlichem Milliardeneinsatz abgefedert werden mussten (z. B. für Kurzarbeit). Und das zeigt die Rekordinflation, in der milliardenschwere Anti-Teuerungspakete geschnürt werden müssen.
Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz, sagt: „Die untere Mittelschicht lebt solange in relativem Wohlstand mit Mietwohnung, Auto, Urlaub, Hobbys und Zukunftschancen für die Kinder, solange Systeme des sozialen Ausgleichs existieren. Ihre Lebensqualität wird durch den Sozialstaat möglich gemacht.“
Pensionsversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, geförderte Mietwohnungen und öffentliche Schulen sicherten insofern den Lebensstandard dieser Menschen und verhindern gerade in unsicheren Zeiten ein Abrutschen nach unten.
Entscheidend ist: Die untere Mitte hat kein Vermögen, um Einschnitte wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit einfach aufzufangen. Armutsexperte Schenk: „Und wäre sie gezwungen, Vermögen für Alter, Bildung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit anzusparen, wäre ihr Lebensstandard und ihr Konsumniveau vernichtet. Die Mitte ist also dort weniger gefährdet, wo es ein starkes Netz sozialer Sicherheit gibt.“
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