Vranitzky: "Regierung muss neue Wege gehen"
KURIER: Herr Dr. Vranitzky, die Kandidaten von SPÖ und ÖVP haben bei der Hofburg-Wahl gemeinsam nicht einmal 23 Prozent erreicht. Es wird erstmals einen blauen oder einen grünen Bundespräsidenten geben. Polit-Kommentatoren sehen das Ende der Zweiten Republik eingeläutet. Sie auch?
Franz Vranitzky: Wenn wir die Einteilung treffen, dass zwischen 1918 und 1938 die Erste Republik existiert hat – und von 1945 an bis heute die Zweite Republik, dann hat sie nicht aufgehört zu existieren. Sie hört nicht wegen eines schlechten Wahlergebnisses der Regierungsparteien auf. Wenn aber eine Zeitung wie der KURIER sich veranlasst sieht, zu fragen, ob es das mit der Zweiten Republik schon war, dann ist das auch nicht bloß eine journalistische Facette, sondern sollte als Warnruf gewertet werden. Wir haben aber alle Möglichkeiten, diesen Warnruf nicht nur zu hören, sondern auch in die praktische Politik umzusetzen. Das muss halt jetzt auch geschehen.
Was könnte die Regierung – nun unter Christian Kern – tun? Was müsste sie etwa tun, um die Wirtschaft anzukurbeln? Die Unzufriedenheit oder Verunsicherung in der Bevölkerung hängt ja wohl auch damit zusammen, dass die Wirtschaft nicht in Schwung kommt und die Arbeitslosigkeit steigt.
Ihre Feststellung ist vollkommen zutreffend, ich glaube nur, es müsste nicht so sein. Man braucht nur etwa bei Aiginger, Schratzenstaller (WIFO-Forscher) und Co nachlesen. Es gibt durchaus Möglichkeiten, nur muss man halt neue Wege gehen. Ein Element dieses neuen Weges wäre, dass sich die Regierung von der Landeshauptmänner-Konferenz emanzipiert. Auf diese Art und Weise wäre ihr Entscheidungsspielraum ein anderer. Die föderalistischen Strukturen müssten aufgebrochen werden.
Wie konkret?
Wir wissen, dass wir in den verschiedenen Gebietskörperschaftsstufen Kompetenzen verstecken, die nicht notwendig sind. Wir haben in allen Bundesländern eine eigene Bau-Ordnung, einen eigenen Jugendschutz, andere Budgetpraktiken, das geht bis hin zum großen Bildungsthema. Da könnte man den finanziellen Spielraum, der eng geworden ist, etwas ausweiten. Wenn das nicht der Fall ist, lebt in der Bevölkerung die Erkenntnis: "Denen fällt nichts anderes als Austerity ein" – also Sparpolitik und Kürzungen. Das ist im Übrigen eine europaweit anzutreffende Krankheit.
Die Deutschen haben eine etwas andere Bevölkerungsstruktur, was die Überalterung betrifft, und haben bis vor nicht so langer Zeit auch einen geringeren Migrationsdruck gehabt. Bei uns ist ein nicht unwesentlicher Teil der Arbeitslosigkeit durch die Zuwanderung bedingt. Und die Deutschen sind halt auch besondere Exportkaiser, das hilft ihnen sehr. Wir sind in Österreich aber auch nicht früh genug dran, die Notwendigkeiten zu erkennen, die man in den industriellen Revolutionsphasen braucht. Wir müssten uns schon sehr viel länger mit Industrie 4.0 und mit der Digitalisierung beschäftigen. Das sind Kern-Themen, wo die Politik sofort zupacken muss. Weil das die beiden Regierungsparteien bisher aber überhaupt nicht ausreichend getan haben, gibt es insbesondere für die junge Generation sehr wenige Zukunftsaspekte. Und wenn die Politik Zukunft nicht darstellen und erklären kann – und die Bürger auf einem Weg in die Moderne nicht mitnimmt, dann wenden sich die Bürger von der Politik ab.
Die Politik muss den Menschen die Zukunft erklären – das führt mich zum EU-Beitritt. Das war ja ein maßgeblicher Schritt in Ihrer Zeit als Bundeskanzler. Sie mussten dem Volk erklären, warum es für Österreich wichtig ist, der EU beizutreten.
Ja, das war ein ganz entscheidender Schritt, aber die Erklärung der Sinnhaftigkeit hört mit dem Beitritt nicht auf. Ich bin jetzt fast zwei Jahrzehnte aus der politischen Arbeit weg und muss zu meinem großen Bedauern konstatieren: Es wurde seither über weite Strecken keine aktive und offensive Europapolitik betrieben. Man ließ das irgendwie laufen. Schrittweise hat sich da eine Aversion entwickelt. Es ist ein Gebot der Stunde bzw. des Jahrzehnts, die Europa-Idee als einen umfassenden, allgegenwärtigen Bestandteil der Politik zu vermitteln.
Momentan ist es wohl schwierig, der Bevölkerung die EU zu erklären, weil einiges nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte. Stichwort Flüchtlinge. Ist es nicht auch so, dass die EU zu wenig vermittelt, dass sie Lösungen für die Probleme der Menschen findet?
Ich halte den gegenwärtigen Zustand der EU für eine dramatische Tragik unserer Zeit, die – so fürchte ich – sich auch nicht rasch lösen lassen wird. Diese Tragik besteht darin, dass die 28 Regierungen alles andere als eine in Grundfragen konsequente Einheit darstellen. Das ist sehr verantwortungslos. Sie vertreten nationale und nationalistische Ideen, ohne das Wohl ihrer Bevölkerung dabei im Auge zu haben. Das trifft auf die Visegrád-Staaten zu (Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei), aber auch auf etliche andere, die sich etwa mit Austrittsgedanken beschäftigen. Viele Regierungen sind aufgrund ihrer innenpolitischen Schwäche nicht in der Lage, europapolitisch konstruktive Beiträge zu leisten. Deshalb funktioniert das ganze System nicht.
Sie haben Österreich nicht nur in die EU geführt, sondern Sie waren auch der erste Spitzenpolitiker, der klare Worte im Hinblick auf die Vergangenheit gefunden hat. Warum hat sich Österreich mit der Geschichte so schwer getan?
Da wird es mehrere Gründe geben. Ein Grund war, dass es politisch bequem war, die Opferthese zu vertreten.
Aber es ist schon erstaunlich, dass es so lange gedauert hat. Sie waren der siebente Bundeskanzler. Auch Bruno Kreisky hat das Thema nicht angepackt.
Kreisky war in seiner Jugend politisch nicht in erster Linie aus seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus geprägt, sondern aus einer Gegnerschaft zum Austrofaschismus. Die, die ihn eingesperrt und vor Gericht gestellt haben, waren nicht die Nazis, das war die Heimwehr und die damals Regierenden. Kreisky hat auch den Satz gesagt: Ein ehrlicher Nazi ist ihm lieber als zehn Austrofaschisten. Bei Kreisky kam auch noch sein Engagement dazu, den Nahen Osten zu befrieden. Das kann man nicht, ohne die palästinensische Seite zu berücksichtigen.
Heutzutage sind in ganz Europa wieder Rechtspopulisten im Vormarsch. Das spüren wir auch in Österreich. Wir stehen vor der Hofburg-Stichwahl, bei der ein FPÖ-Kandidat als Sieger hervorgehen könnte. Was würde das für das Land bedeuten?
Hofer hat ja im Wahlkampf erkennen lassen, dass er das höchste Amt im Staat mehr autoritär anlegen wird, als das bisher die Gepflogenheit war. Man wird sehen, ob er – wenn er Präsident wird – die Befürchtungen, die vorherrschen, widerlegt oder bestätigt. Davon wird es abhängen, wie Österreich gesehen wird.
Es heißt, SPÖ-Bundesgeschäftsführer Schmid hätte Sie gerne als Präsidentschaftskandidat gesehen. Gab es diese Überlegung tatsächlich?
Schmid hat mich einmal darauf angesprochen, aber ich habe gesagt, dass ich nicht zur Verfügung stehen würde. Es ist ja schon den Kandidaten, die beim ersten Wahlgang angetreten sind, vorgehalten worden, dass sie uralt sind. Ich bin noch älter.
KURIER-Serie: Zweite Republik - war's das?
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