Zweite Republik. War’s das?
In einem seiner vielen Interviews erzählt Franz Olah, der im Jahr 2009 mit fast 100 Jahren verstorbene ehemalige ÖGB-Chef und Innenminister, wie es zum Raab-Olah-Abkommen im Dezember 1961 gekommen ist, wo es unter anderem um die Öffnung des Arbeitsmarktes für Ausländer ging: "Die Regierung war monatelang nicht in der Lage, die Dinge zu lösen, dann sind alle auf Weihnachtsurlaub gegangen, ich bin mit Raab in Wien geblieben und habe alles ausgemacht. Die sind in ihrem Urlaub alle vom Sessel gefallen, dann haben sie getobt, aber schließlich haben sie uns in beiden Parteien den Dank ausgesprochen, weil ihnen nichts anders übrig geblieben ist."
Ja, so war das, das ist keine Anekdote aus den fernen Zeiten, das ist eine punktgenaue Beschreibung, wie in Österreich jahrzehntelang Politik gemacht wurde und teilweise noch wird. Lange Zeit war das erfolgreich, im Moment kriselt die Republik. Julius Raab, der legendäre Staatsvertragskanzler war im Jahr 1961 wieder Präsident der Wirtschaftskammer, Franz Olah Chef des ÖGB. Und so wie Raab nach dem 2. Weltkrieg mit ÖGB-Chef Johann Böhm die Sozialpartnerschaft aufgebaut hatte, traf er auch mit Franz Olah Entscheidungen, die in den Nationalrat gehört hätten. Aber die Abgeordneten von ÖVP und SPÖ durften das nur mehr bestätigen.
Stabilität durch die "Realverfassung"
Die Sozialpartnerschaft ist nur eine dieser Einrichtungen, die den Wiederaufbau des Landes nach dem 2.Weltkrieg beschleunigten und die Gesellschaft stabilisierten, zum Teil an der Bundesverfassung vorbei. Denn neben den drei gesetzlich vorgesehenen Kammern für Arbeiter, Bauern und Wirtschaftstreibende gehört auch der Österreichische Gewerkschaftsbund dazu, nicht mehr als ein Verein. Aber da Bauern und Unternehmer schwarz dominiert waren, mussten ihnen zwei rote Organisationen gegenüberstehen: Die Arbeiterkammer und der SPÖ-dominierte ÖGB.
Die politische Realität neben der Verfassung, im Zweifel auch gegen diese, das ist die Grundlage der 2. Republik und das Besondere an Österreich seit 1945: Die Stabilität erwuchs aus dem weitgehend unkontrollierten Tun starker Männer – erst 1966 kam mit Grete Rehor (ÖVP) die erste Frau in die Regierung. Und damit es nicht gar so gesetzwidrig klingt, wurde das Wort von der Realverfassung erfunden. Die ist sehr umfangreich: Da gibt es zunächst die Sozialpartnerschaft, die anfangs sogar Löhne und Preise regelte und bis heute vor der Verabschiedung von Gesetzen im Parlament diese im sogenannten vorparlamentarischen Raum schon aushandelt. Dazu kommt, dass auch ein Großteil der Mandatare den Sozialpartnern zuzurechnen ist.
Noch ein Stück Realverfassung: Die Macht der Länder, beziehungsweise der Landeshauptleute. Die Verfassung regelt ihre Zuständigkeit als Vorsitzende der Landesregierung, aber auch als Organ des Bundes in der mittelbaren Bundesverwaltung bei der Vollziehung von Gesetzen. Aber die Pyramide ist oft umgedreht, wenn Landeshauptleute dem Bund ausrichten, was sie zu tun haben, wer Minister oder Parteichef wird oder wie die Steuereinnahmen zu verteilen sind. Abgeordneter zum Nationalrat wird man durch Zustimmung der Länderchefs. Mit der Landeshauptleutekonferenz wurde gar eine Einrichtung geschaffen, die es in der Verfassung nicht gibt, aber wo Vertreter des Bundes regelmäßig vorgeladen werden. Also auch hier gilt: Die wahre Macht agiert neben der Verfassung. Und je schwächer die formalen Institutionen des Bundes wurden, umso stärker wirkte die Realverfassung.
Zwei Parteien teilten das Land unter sich auf
Davon profitierten auch die Parteien ÖVP und SPÖ. Bei der ersten Nationalratswahl nach dem Krieg im November 1945 bekamen sie zusammen fast 95 Prozent der Stimmen, nur die Kommunisten schafften noch den Einzug ins Parlament. Das sogenannte 3. Lager der ehemals Deutschnationalen gründete erst 10 Jahre später die FPÖ, die 1983 erstmals in eine rot-blaue Regierung kam und bis zum Aufstieg Jörg Haiders ab 1986 nur wenige Mandate besaß. Also konnten Schwarze und Rote eine Reihe von Institutionen, noch mehr Posten und sehr viel Geld aufteilen. Manchmal verschämt, meistens ganz offen. In der Oesterreichischen Nationalbank regelte das sogenannte "Abkommen von Honolulu" den schwarz-roten Proporz bis hinunter zum Portier. Der blumige Begriff rührt vom Tagungsort der Weltbank, wo 1961 ein roter und ein schwarzer Nationalbanker zu Besuch waren.Überall wurde verteilt, und es war ja auch immer mehr zum Verteilen da, das Wirtschaftswunder war kein Wunder, sondern das Ergebnis des erfolgreichen Wiederaufbaus eines zerstörten Landes. Also fragten die Bürger nicht, ob auch alles gemäß der Verfassung ablief, sondern nur, ob es auch halbwegs gerecht zuging. Da half ein tiefer Glaube in den Staat, der für alles sorgte. Den Parteien gelang es zu vermitteln, dass sie dafür verantwortlich waren. So entwickelten sich Staatsgläubigkeit und Parteienhörigkeit als Glaube an das Funktionieren der informellen Strukturen.
Das Milliardengrab der verstaatlichten Industrie
Der riesige verstaatlichte Sektor, von den Banken bis zur Industrie, garantierte sichere Arbeitsplätze, dazu kamen immer bessere Gesundheitsversorgung und Pensionen, in Wien auch noch Wohnungen, jedenfalls für Mitglieder der SPÖ. Ein Parteibuch garantierte Beamten den sicheren Aufstieg und Unternehmern den Zugang zu öffentlichen Aufträgen. Hinterfragt wurde das System erst, als die verstaatlichte Industrie zum Teil pleite war. In den 1980er-Jahren verloren dort 55.000 Menschen ihren Job, der Staat musste umgerechnet 4,4 Milliarden Euro zuschießen. Schuld waren die Parteien, aber auch die Gewerkschaften, die in die Unternehmen hineinregierten.
Die 2. Republik war mit ihrer unkonventionellen Struktur gut für den Wiederaufbau einer auch psychisch verletzten Gesellschaft, die informelle Ordnung wurde trotz Proporz akzeptiert, weil sie funktionierte. Aber Veränderungen oder gar Reformen waren nur spät und unter größtem Druck möglich. Denn die Realverfassung zu verändern ist noch schwieriger als Institutionen den neuen Herausforderungen anzupassen. Was es eigentlich gar nicht gibt, kann man auch nicht reformieren.
Europa – schon wieder eine Veränderung
Das mag ja auch der Grund dafür sein, dass wir uns in Europa so schwertun. Die Institutionen der Europäischen Union folgen klaren Gesetzen. Wenn Kriterien für sie Verschuldung nach dem Vertrag von Maastricht einzuhalten sind, dann hilft kein Sozialpartner-Gipfel und keine Plauderei beim Heurigen, dann geht es nur um die richtigen Zahlen.
Im wirtschaftlichen Bereich fördert das offene Europa den Wettbewerb. Dem stellen sich viele Unternehmen gerne, weil sie mit ihren Produkten erfolgreich sind, über 120 österreichische Firmen sind gar Weltmarktführer. Aber der geschützte Bereich war zu lange zu groß, wer nicht gelernt hat, sich gegen internationale Konkurrenz zu bewähren, sucht die schützende Einheit, den Staat. Aber der kann sich immer weniger leisten. Da ist im Zweifel dann "Brüssel" schuld. Oder die Globalisierung, die noch immer mehr als Gefahr denn als Chance empfunden wird. Ein Handelsabkommen mit den USA kann nur gefährlich sein, glauben viele, obwohl etwa unsere Bauern mir ihren qualitätsvollen Produkten überall auf dem Weltmarkt bestehen könnten.
Nach 1918, im Schock des 1. Weltkriegs, in den neuen, engen Grenzen und ohne wirtschaftliche Perspektive konnten weder ein Staat noch Nationalbewusstsein wachsen. Nach dem 2. Weltkrieg gelang es. Als Jörg Haider die österreichische Nation im Jahr 1988 als "ideologische Missgeburt" bezeichnete, blamierte er sich. Seinen Aufstieg hat das freilich nicht verhindert. Die Neutralität, am 26. Oktober 1955 vom Nationalrat beschlossen, freiwillig, aber doch im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag, hat zur Selbstfindung der Nation Österreich beigetragen. Aber auch die Neutralität verhindert nicht, dass wir Auswirkungen internationaler Konflikte spüren.
Die Funktion von Medien wurde nie verstanden
Ein Großteil der Medien war ja auch recht gut zwischen schwarz und rot aufgeteilt. Der ORF erlebte nur eine kurze Phase der Unabhängigkeit nach dem Volksbegehren des Jahres 1964, die Parteizeitungen existierten bis in die 1990er Jahre und es war ausgerechnet Franz Olah, der mit Gewerkschaftsgeldern bei der Gründung der Kronen Zeitung half. Olah hatte da kein schlechtes Gewissen, er wollte ein Gegengewicht zum ÖVP-Volksblatt.
Anders als in älteren liberalen Demokratien akzeptierte die Politik die Medien nie als natürliche Kontrolle der Macht, als "public watchdog", sondern wollte Verbreiter der eigenen Botschaften. Oder sah in ihnen Gegner, um die eigene Truppe zusammenzuhalten. Anton Benya, ab 1963 Chef des ÖGB und später auch Nationalratspräsident rief einmal: "Die bürgerlichen Medien schlagen uns, weil sie uns hassen." Und das ausgerechnet zu einer Zeit, wo Bundeskanzler Bruno Kreisky mit diesen "bürgerlichen Medien" nach Belieben spielte. Heute läuft das weniger intellektuell ab, über Inserate und auf Kosten des Steuerzahlers. So will sich die Politik Meinung kaufen. Aber auch das funktioniert in der Medienwelt des Internets immer weniger.
Die politische Stabilität der informellen Strukturen, der Parteien und Verbände, sie funktionierte, solange immer mehr zu verteilen war. Jetzt geht sie zu Ende. Autoritäten von früher, wie die katholische Kirche, wirken ebenso schwach wie viele Institutionen des Staates. Jetzt lautet die große Herausforderung: Freiheit, Demokratie und sozialen Zusammenhalt so zu ordnen, dass unsere Gesellschaft in der globalisierten, durch wachsende Konkurrenz und Digitalisierung aller Bereiche bestimmten Welt bestehen kann. Durch Abschotten werden wir den Wohlstand nicht erhalten können.
KURIER-Serie: Zweite Republik - war's das?
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