Verhaltensbiologe Kotrschal: Wie uns die Pandemie verändert

Nur noch eine Nacht, dann wird der Lockdown vorsichtig wieder gelockert. Was Virologen nervös macht, sieht der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal als notwendige Maßnahme, um die momentane Situation abzukühlen. Denn derzeit steuern wir auf eine Eskalation zu. Hier steht die Medizin konträr zur Verhaltensforschung.
Im KURIER-Interview erklärt Kurt Kotrschal, warum die Menschen europaweit die Maßnahmen nicht mehr mittragen wollen, wo die Ursache für die Demonstrationen zu finden ist und warum die Suizid-Zahlen trotz Lockdowns nicht angestiegen sind.
KURIER: Herr Kotrschal, seit 2. November befinden wir uns abwechselnd im sanften und im harten Lockdown. Im Frühjahr war noch eine große Solidarität zu spüren, aber jetzt wird der Widerwillen zunehmend größer. Was sind die Gründe dafür?
Kurt Kotrschal: Im Frühjahr gab es noch eine gewisse Neugierde auf den Lockdown, aber jetzt ist die Bevölkerung müde. Und es ist ja einiges schief gegangen. Die Menschen spüren es, wenn die Maßnahmen nicht evidenzbasiert getroffen werden, sondern wenn Klientelpolitik gemacht wird. Der große Antrieb für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft bei einer Krise ist das Bedürfnis, dass alle gleich und gerecht behandelt werden. Dieses Gefühl hatte die Bevölkerung im Frühjahr. Wenn aber die Skilifte aufsperren dürfen und alle anderen – wie Theater und Museen – dichtmachen müssen, darf man sich keine Solidarität erwarten. Dazu kommt, dass durch die sozialen Medien eine unglaubliche Kakofonie entstanden ist. Dadurch kommen die Bruchlinien in der Gesellschaft, die schon vor der Pandemie existiert haben, jetzt richtig zum Vorschein. 20 Jahre neoliberale Gesellschaft, in der 15 Jahre lang die Reallöhne kaum gestiegen sind, haben ihre Spuren hinterlassen. Viele fühlen sich nicht ernst genommen und als Abgehängte. Wir haben die Pegida-Demonstrationen in Deutschland. Die Randale in Holland. Den Sturm auf das Kapitol. Das sind alles relativ junge Erscheinungen, die von einem Gemisch relativ ähnlicher Menschen getragen werden. Hier von einem Mob zu reden, wäre billig. Es schaut nach einem raschen Zerfallen der Gesellschaft aus. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir im Frühjahr erlebt haben. Damals war das Wir-Gefühl so groß wie wahrscheinlich zuletzt in der Nachkriegszeit.
Aus Sicht des Verhaltensforschers: Wäre es vermessen, jene Menschen, die am vergangenen Sonntag in Wien an einer illegalen Demonstration teilgenommen haben, ins rechtsextreme Eck zu stellen?
Ich wäre sehr, sehr vorsichtig, diese Menschen abzuwerten. Gerade in so einer Situation ist das demokratische Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit ganz hoch zu achten.
Wie viel Anteil trägt die aktuelle Politik an dieser Entwicklung?
Schauen Sie nach Finnland oder in andere skandinavischen Staaten. Hier ist die Bereitschaft, sich an die Maßnahmen zu halten, noch immer groß, weil die Maßnahmen stringenter umgesetzt werden. Ganz anders die Situation in Italien und Österreich. Hier funktioniert es grottenschlecht. Wir sind zwar ein Land, wo eine unterwürfige Einstellung zu den Regierenden existiert und heftige Straßenschlachten wie in Frankreich oder Holland unwahrscheinlicher sind. Aber der passive Widerstand wird sofort ausgeübt, wenn man mit der Regierung unzufrieden ist. Wir erleben jeden dritten Tag eine Verkündung von neuen Maßnahmen, aber die Österreicher hören nicht mehr zu. Das sieht man auch am Bewegungsprofil. Im dritten Lockdown ging die Mobilität nur noch um 30 Prozent zurück, während im ersten Lockdown die Reduktion bei 70 Prozent lag. Selbst die Polizei exekutiert die Maßnahmen nicht mehr gerne, weil sie sich im ersten Lockdown die Finger ordentlich verbrannt hat.
Die Mehrheit der Österreicher sind eher die stillen Revoluzzer?
In diesem Punkt offenbart die Pandemie eine Schwäche der österreichischen Gesellschaft: Wir halten uns nicht gerne an Regeln. Wir fahren gerne mit zu hoher Geschwindigkeit über die Autobahn. Wir schießen gerne illegal Wildtiere ab – und das passiert sogar sehr oft. Irgendwie ist es für den Österreicher fesch, wenn man sanfte Gesetzesverletzungen begeht. In der Corona-Krise ist das nicht anders.
Ab Montag wird der Lockdown gelockert. Wenn man Ihre Analyse hört, ist die Maßnahme der Regierung aus Sicht des Verhaltensforschers goldrichtig, während die Virologen diese Situation mit großer Sorge sehen?
Wir haben im Moment eine eskalierende Situation. Böse Zungen sagen ja, dass unsere Regierung seit März zunehmend die Kontrolle über die Bevölkerung verloren hat. Das ist freilich keine sehr demokratische Äußerung, denn die Kontrolle über die Bevölkerung ist nicht Aufgabe der Regierung. Mit klugen Lockerungen und ein bisschen mehr Zuckerbrot als Peitsche wird man wahrscheinlich mehr erreichen. Mit weiteren Verschärfungen des Lockdowns, die ja von der Exekutive gar nicht zu überwachen sind, wäre man sehenden Auges gegen die Lockdown-Wand gelaufen.
Eine Pandemie ist für einen Verhaltensforscher ein Feldversuch der Sonderklasse. Welche Verhaltensformen werden bleiben, welche verschwinden?
Was Matthias Horx prophezeit hat, dass die Welt eine Bessere wird, glaube ich nicht. Einiges wird bleiben, wie Homeoffice und der Umgang mit der Digitalisierung, weil es auch viele Vorteile für die Umwelt bringt. Auch wenn es die Wirtschaft nicht gerne hört, aber im Sinne der Bewältigung der weltweiten Klimakrise wäre es von Vorteil, wenn die Menschen durch die Pandemie entdeckt hätten, dass man nicht alles, was wir uns bis jetzt gekauft haben, auch wirklich braucht. Andererseits: Ob die Nähe, so wie wir sie vor der Pandemie lebten, wiederkommt, hinterfrage ich. Wenn man die Bevölkerung über Monate zu einem bestimmten Lebensstil zwingt, dann bleibt sicher etwas hängen. Anfangs werden die Wirtshäuser sicher gestürmt werden, weil einfach ein Nachholbedarf spürbar ist. Hier braucht es durchdachte Präventionskonzepte. Es wird aber eine Zeit lang brauchen, bis die Leute wieder den Lebensstil dahingehend einstellen, dass der Konsum von Kultur und Gebrauchsgütern auf Vorkrisen-Niveau steigt. Durch den Lockdown hat sich die Beziehung zur Natur positiv verändert – sogar für die jungen Menschen. Der Absatz von Bioprodukten ist gestiegen, weil zu Hause wieder mehr gekocht wird. Auch das wird wahrscheinlich bleiben.
Zum Start des ersten Lockdowns warnten Sie davor, dass auch Einsamkeit tötet. Damals war niemandem bewusst, dass man drei Lockdowns durchleben muss, also insgesamt fünf Monate im Lockdown-Modus sein wird. Für Singles war es ein schweres Jahr, weil sie kaum Kontakte hatten. Die ältere Generation wurde teilweise isoliert. Welche Folgen sind daraus entstanden?
Es gibt eine interessante Entwicklung. Momentan sieht man, dass die ältere Generation mit der Reduzierung der sozialen Kontakte und der Einsamkeit besser umgeht, als Kinder und Jugendliche in der Pubertät. In diesem Segment haben wir erhebliche psychische Probleme. Im Lockdown sind die Suizid-Zahlen aber nicht nach oben gegangen, sondern haben sich reduziert. Das ist ein interessantes Phänomen, das aber nicht darauf schließen lässt, dass der Lockdown die Menschen kalt lässt. Sondern sie haben jetzt möglicherweise Wichtigeres zu tun, als Suizid zu begehen. Zugegeben, das mag zynisch klingen, aber so erklärt es sich die Wissenschaft. Das ist ein Effekt, den wir so nicht erwartet haben. Aus wissenschaftlicher Sicht bleibt Corona hochinteressant. Aus menschlicher Sicht wäre es schön, wenn wir das Virus endlich losbekommen.
Die Pandemie ist für einen Verhaltensforscher im Gegensatz zur Bevölkerung ein Glücksfall?
Ja, auch das mag zynisch klingen, aber das denken sich viele Wissenschaftler. So eine Situation hatten wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Man darf die Situation nicht mit den Kriegszeiten und den Jahren nach 1945 in einem Topf werfen. Diese Zeit war für die Menschen ungleich härter. Aber was 2020 passiert ist, ist schon ein radikales Experiment. In Großbritannien ist der Lockdown schon bis zum Sommeranfang verlängert. Diese Gesellschaft ist dann noch länger im Lockdown als wir. Die aktiven Verhaltensbiologen und Soziologen müssen jetzt mit relativ wenig Schlaf auskommen, denn momentan kann man wahnsinnig viel Neues über das Wesen des Menschen lernen.
Kurt Kotrschal (67)
Der Linzer und Vater von zwei Kindern hat sich sein Leben lang mit Menschen und Tieren und deren Beziehung zueinander beschäftigt. Er erforscht das Verhalten von Hunden und Wölfen sowie die Intelligenz von Vögeln. Als Nachfolger des nicht unumstrittenen Nobelpreisträgers Konrad Lorenz leitete er die Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Wolf Science Center
Er war Professor an der Universität Wien und Mitbegründer des Wolf Science Center in Ernstbrunn. Auf 40 Hektar wird dort in Niederösterreich das Verhalten von Wölfen beobachtet, der Wildpark ist weltweit einzigartig. Daneben tritt Kotrschal in TV-Dokumentationen auf, schreibt Kolumnen in Zeitungen und Bücher
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