Ist diese engere Anbindung an die NATO aus gesamteuropäischer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt der richtige sicherheitspolitische Schritt?
Für die Schweden und Finnen ganz offenkundig ja. Wenn es um ihre Freiheit und Sicherheit geht, vertrauen sie dem transatlantischen Bündnis mit den USA an der Spitze mehr als der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So gesehen ist es wohl auch ein massiver Rückschlag für die europäischen Bemühungen. Es bleiben in der EU neben 23 NATO-Mitgliedern nur mehr Nicht NATO-Staaten, die Inseln Irland, Malta, Zypern und die selbst ernannte „Insel“ Österreich. Kaum wahrscheinlich, dass diese vier in der EU in Verteidigungsfragen tonangebend werden.
Sollte auch Österreich vor dem Hintergrund, dass auf europäischem Boden ein konventionell geführter Angriffskrieg stattfindet, einen NATO-Beitritt ernsthaft in Erwägung ziehen?
Um das überhaupt seriös beurteilen zu können, sind viele Vorfragen zu klären. Die Zuspitzung „NATO oder Neutralität“ greift daher zu kurz. Sicherheitspolitik ist keine Reduktionskost. Es ist in den letzten zehn Jahren auch viel passiert, von Cyberangriffen über die COVID-Krise bis zu Terroranschlägen und einem Angriffskrieg von ungeahnter Brutalität. Landraub in Europa, siehe Krim und Teile des Donbass. Aber die geltende österreichische Sicherheitsdoktrin wurde 2011 noch von der Regierung Faymann/Pröll beschlossen, ohne die Grünen. Zeit für ein Update!
Eine andere Option wäre eine EU-Armee innerhalb oder außerhalb der NATO-Strukturen. Donald Trump, dessen Wiederwahl nicht völlig ausgeschlossen scheint, hat zumindest mit einem NATO-Austritt geliebäugelt. Wäre ein EU-Militärbündnis, das auch ohne die USA Schlagkraft hätte, die bessere Antwort auf Wladimir Putin?
Und wie bitte soll das gehen? Die EU ersetzt militärisch die USA? Europa bringt ja bisher nicht einmal einen gemeinsamen Panzer, ein Schiff, ein Flugzeug oder gemeinsame Geheimdienst-Informationen zusammen. Da ist eine gemeinsame Armee extrem weit entfernte Zukunftsmusik, um nicht zu sagen glatt unrealistisch. Gerade deswegen sind ja auch die skandinavischen Sozialdemokraten für einen NATO-Beitritt.
Durch die EU-Beistandspflicht wäre Österreich bei einem Angriff theoretisch geschützt. Zusätzlich ist man im Osten von NATO-Staaten umgeben. Flapsig gefragt: Genügt das nicht?
Wer gern zu 100 Prozent von anderen abhängig ist, dem mag das vielleicht genügen. Der muss dann auch nach deren Pfeife tanzen. In Wirklichkeit halsen wir stillschweigend unseren NATO-Nachbarn Slowakei, Ungarn, Tschechien und Slowenien die Bürde unserer Verteidigung auf. Ist das fair? Ist das vernünftig? Wo ist die Gegenseitigkeit? Mir selbst reicht „theoretisch geschützt sein“ nämlich nicht. Daher muss ich mich allerdings auch fragen, welchen Mehrwert ich für die anderen einbringen kann. Kann ich ernsthaft davon ausgehen, dass andere mich notfalls mit der Waffe in der Hand verteidigen werden, während mein Beitrag Apfelstrudelbacken und Gebirgsjägerausbildung ist?
Die Schweiz diskutiert über eine engere Anbindung an die NATO. Sind die Eidgenossen einen Schritt weiter als Österreich?
Ja. Die Schweizer haben zwar auch Kühe, aber weniger heilige Kühe als wir. Sie überlegen staubtrocken, was ihnen nützt, wie sie sich bestmöglich schützen können. Die Neutralität ist für sie ein Instrument der Sicherheitspolitik, kein Selbstzweck. Und sie geben dreimal so viel aus für ihre Verteidigung wie wir. Die Schweizer und die Finnen kaufen zum Beispiel 100 modernste Kampfjets von einer US-Firma. Während wir uns nicht einmal überlegen, ob etwa gemeinsame regionale Luftraumüberwachung für uns sinnvoll wäre. Oder eine Weiterentwicklung der Neutralität in Richtung Bündnisfreiheit.
Unterstützer der immerwährenden Neutralität argumentieren oft mit Österreichs Funktion als Brückenbauer. Ist das berechtigt oder überschätzt Österreich sein diplomatisches Gewicht im Jahr 2022?
Ja, das mit dem Brückenbauer ist Selbstüberschätzung, die an Selbstbetrug grenzt. Für Putin ist Österreich ein Sanktioniererland, genau wie alle anderen EU-Länder. Lassen wir also die Füße am Boden. Wie soll denn Diplomatie einen Angriffskrieg, eine Cyberattacke, die unser Gesundheitssystem lahmlegt, oder das Abdrehen eines Gashahns stoppen?
Bundeskanzler Karl Nehammer wurde vor seiner Moskau-Reise im In- und Ausland teils scharf kritisiert. Sie haben ihm Respekt gezollt. Wären Sie heute Außenministerin und würden nach Moskau reisen: Was würden Sie zu Wladimir Putin sagen?
Hören Sie auf mit diesem Krieg! Oder er wird auch zu Ihrem Ende.
Weder in der Bevölkerung, noch in der Politik zeichnet sich eine Mehrheit gegen die Neutralität ab. Wie muss sich Österreich aus Ihrer Sicht unter Wahrung der Neutralität sicherheitspolitisch weiterentwickeln?
Politiker sind ja keine Meinungsumfragen-Umsetz-Automaten. Gute Politik tut, was jeweils richtig, nicht was populär ist. Überzeugen, Mehrheiten bilden, Lösungen erarbeiten, das ist die Aufgabe verantwortungsvoller Politik. Um das überhaupt tun zu können, braucht man eine aktuelle Analyse. Also einen überparteilichen, EU-konformen „Optionenbericht 2022“, und jedenfalls eine Überarbeitung der österreichischen Sicherheitsdoktrin. Welche Risiken, welche Möglichkeiten haben wir? Veränderungen sind immer zuerst unbequem. Aber vielleicht unterschätzt die Politik wieder einmal den Hausverstand der Österreicher. Die wissen nämlich längst, dass die „Neutralität uralt“ keine Tarnkappe ist, die unsichtbar macht.
Gibt es aus Ihrer Sicht eine Möglichkeit, den Ukraine-Krieg am Verhandlungstisch zu lösen?
Tragischerweise zur Zeit nein. Jedenfalls nicht, solange der Angreifer sich Vorteile durch militärisches Vorgehen errechnet.
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