Zu Hause in Kiew wäre Maryana nie zum Sozialmarkt gegangen. Die 43-Jährige trägt einen roten Pulli, eine beige Bundfaltenhose, ist dezent geschminkt. Sie strahlt Selbstbewusstsein aus, das ist auch irgendwie ihr Job. Daheim in Kiew ist Maryana Chefin des Außenpolitik-Ressorts des ukrainischen Fernsehsenders 1+1, dem zweitgrößten des Landes.
Hier in Wien gehört der Sozialmarkt zum Alltag. Sie arbeitet von der Ferne aus, seit sie kurz nach Kriegsbeginn mit ihren drei Kindern aus der Ukraine geflohen ist. Die Lebenshaltungskosten in Österreich sind höher als in der Ukraine, deutlich sogar, und Nachhilfe- und Deutschstunden für ihre Kinder waren zu Hause auch nicht zu zahlen. Einen Job in Österreich, ja "den habe ich natürlich gesucht", sagt sie in perfektem Englisch. Vom AMS seien ihr aber nur Stellen angeboten worden, die extrem schlecht bezahlt oder für die sie weit überqualifiziert gewesen sei, Putzfrau oder Zimmermädchen etwa. Um Geld allein ging es ihr nicht, sagt sie: "Es hat auch etwas mit dem Selbstwertgefühl zu tun, warum ich die Jobs nicht angenommen habe."
Hohe Akademikerquote
So wie Maryana geht es vielen Ukrainerinnen hier in Österreich. Von den 48.000 Menschen hier, die im erwerbsfähigen Alter wären, sind nur 38 Prozent auch tatsächlich beschäftigt – und davon wiederum die Hälfte weit unter ihrer eigentlichen Qualifikation. Zur Verdeutlichung: Mehr als 80 Prozent der Geflüchteten hierzulande haben einen Hochschulabschluss – der Österreichschnitt liegt bei gerade mal 36 Prozent.
Dementsprechend groß war auch die Erwartungshaltung, die nach Beginn des Krieges in Österreich herrschte. "Die Geflüchteten waren hauptsächlich Frauen, darunter viele Akademikerinnen – da würde es rasch klappen mit der Erwerbsaufnahme, so die Schlussfolgerung", sagt Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der WU Wien. Eine Win-win-Situation, würde man meinen, doch die ist nicht eingetreten: Gerade höher qualifizierte Ukrainerinnen konnten am Arbeitsmarkt hier kaum Fuß fassen, deutlich schlechter als etwa in Polen, wohin die Mehrzahl der Menschen floh.
Warum das so ist? Aus mehreren Gründen, sagt Kohlenberger. Zum einen ist da der freie Arbeitsmarktzugang, den Geflüchtete aus der Ukraine in der gesamten EU bekamen, der aber in Österreich restriktiver als in anderen Ländern ist. Lange Zeit mussten alle, die einen Job gefunden hatten, eine Beschäftigungsbewilligung vom AMS vorlegen – und auf die mussten Arbeitgeber mitunter mehrere Wochen warten. "Zu lange bei akutem Personalmangel", sagt Kohlenberger.
Zu niedrige Zuverdienstgrenze
Ein weiterer Grund ist die niedrige Zuverdienstgrenze in der Grundversorgung. Eine zweifache Mutter darf nur 270 Euro dazuverdienen, ohne Abstriche von der Grundversorgung (max. 800 Euro ohne Familienbeihilfe) zu befürchten. Jobs in diesem Einkommensbereich gibt es kaum, und wenn doch, sind es niedrig qualifizierte Minijobs. Derartige Stellen wären aber nötig, damit die Frauen – meist Alleinerzieherinnen – sowohl einen Fuß in den Jobmarkt als auch Betreuungsplätze für ihre Kinder bekommen: In Wien hat nur Anspruch auf einen städtischen Kindergartenplatz, wer einen Job hat.
Dass höher Qualifizierte länger brauchen, um am Arbeitsmarkt Tritt zu fassen, hat man schon in früheren Migrationswellen gesehen, 2015 etwa. Damals waren es die bürokratischen Hürden bei der Anerkennung der Ausbildung, die Menschen am Eintritt in den Jobmarkt hinderten. Die Nostrifizierung, wie der Prozess heißt, dauert nämlich oft Monate – oder fast Jahre. Oleksandra, promovierte Politikwissenschaftlerin, wartete etwa zehn Monate auf das Schreiben, das ihre Diplome anerkennt – dabei lehrte sie in der Ukraine an der Universität, daneben beriet sie verschiedene Parteien und Institutionen. Beworben hätte sie sich oft, sagt die 38-Jährige, in den Absagen habe es meist geheißen: "Ihr Deutsch reicht nicht aus." Und das, obwohl sie derzeit Deutsch auf C1-Niveau lernt, das ist die Stufe vor Muttersprache.
Kohlenberger führt das auf Österreichs "Deutschfetisch" zurück. "Die deutsche Sprache gilt bei uns als Schlüssel für Integration. Es gibt nur wenig Bereitschaft, sich in einer anderen Sprache zu unterhalten." Das widerspricht allen empirischen Daten, sagt sie: Sprache lerne man am schnellsten durch "Learning by Doing", also am Arbeitsplatz. Dennoch seien österreichische Unternehmen in der Praxis widerwillig, Mitarbeiter mit geringen Deutschkenntnissen einzustellen. Das sei paradox, sagt die Forscherin: "Unsere Gesellschaft ist so divers, trotzdem haben wir einen sehr monolinguistischen Fokus." In anderen Ländern, EU-weit aber auch global, gebe es oft mehr Toleranz. Das wird in Umfragen unter internationalen Expats auch als Attraktivitätsmerkmal eines Wirtschaftsstandorts gesehen.
Daneben gibt es auch noch strukturelle Hürden am Arbeitsmarkt, die Frauen betreffen, ganz gleich, woher sie kommen. "Der Großteil der geflüchteten Frauen ist allein mit ihren Kindern nach Österreich gekommen", sagt Kohlenberger. Bei ihrer Datenerhebung habe die Mehrheit angegeben, zwar unbedingt arbeiten zu wollen, aber nur in Teilzeit – „weil sie für ihre Kinder da sein wollen oder sich die Kinderbetreuung einfach nicht leisten können.“
Olena geht es genau so. Sie ist mit ihrem siebenjährigen Sohn geflohen, ihre Eltern sind in der Ukraine geblieben, waren nicht mobil genug für die Flucht, ihre Schwester kümmert sich um sie. Selbst wenn sie einen Job finden würde, der ihrer Ausbildung entspräche – Olena hatte eine Führungsposition in einem großen Versicherungsunternehmen inne –, bleibt eine Frage: "Wer kümmert sich um meinen Sohn, wenn er zu Mittag aus der Schule kommt?"
Teilzeit schreckt Arbeitgeber ohnehin ab, das wissen auch Frauen ohne Migrationshintergrund. 40 Bewerbungen habe sie geschrieben, erzählt Olena, zwei Antworten kamen zurück. Und das AMS sei auch nur bedingt hilfreich gewesen: Ein Jobangebot habe man ihr gemacht, als Putzfrau, "dann war monatelang Funkstille."
Die Politik müsse hier Maßnahmen zur Entlastung setzen, sagt Kohlenberger – andere Frauen seien mit Kindern und Eltern geflohen, hätten also zusätzlich auch noch jemanden zu pflegen. Unterstützung bei dieser "doppelten Betreuungspflicht" käme letztlich nicht nur den Ukrainerinnen, sondern allen Frauen am Arbeitsmarkt zugute, sagt die Migrationsforscherin.
Unterm Strich bleibt das Potenzial, das die vielen Frauen aus der Ukraine für den heimischen Arbeitsmarkt eigentlich darstellen würden, vielfach komplett ungenutzt – damit gehen auch Know-how, Kompetenzen und Motivation verloren. Maryana hat darum auf eigene Faust eine NGO gegründet, die mit Hilfe von finanzstarken US-Mäzenen Akademikerinnen aus der Ukraine vermittelt – mit deutlich mehr Erfolg als das AMS.
Helfen kann sie aber nur einem kleinen Teil der Geflüchteten. Das ist doppelt problematisch, denn die überwältigende Mehrheit der Ukrainerinnen in Österreich ist gekommen, um zu bleiben: Nur zwölf Prozent planen eine Rückkehr in ihre Heimat – für knapp 87 Prozent ist Österreich ihr neues Zuhause. Eines, in dem man vorerst noch zum Sozialmarkt muss.
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