Schuldirektor Glattauer: "Schule wird zu AMS-Vorfeldorganisation"
KURIER: Herr Glattauer, Sie sind seit September 2017 Schuldirektor und haben lange an einer Brennpunktschule unterrichtet. Stimmt es, dass immer mehr Schüler die Schulpflicht beenden, ohne die Grundfertigkeiten in Lesen, Schreiben und Rechnen zu beherrschen?
Niki Glattauer: Das war doch nie anders. In jedem mit Österreich vergleichbaren Land kommen rund 10 bis 15 Prozent der Kinder mit unserer Art Schule nicht zurecht und können dann das nicht, was wir von ihnen erwarten. Das Problem ist, dass die Schule heute zu einer Art Jobbörse geworden ist, im städtischen Pflichtschulbereich muss man zynisch leider sagen, zu einer Vorfeldorganisation des AMS. Die klassische Schule war eine Bildungseinrichtung, in der zwar berufliche Weichen gestellt wurden, aber niemand hat verlangt, dass sie für Jobs sorgt. Heute brechen durch die Digitalisierung überall ganze Berufszweige weg, und wer eine AHS-Matura hat, hat damit noch gar nichts. Nach den Kindern mit nur Mittelschulabschluss sind inzwischen die Kinder mit nur AHS-Matura am häufigsten von Arbeitslosigkeit bedroht. Die neue Initiative ,Lehre nach Matura‘ kommt ja nicht von ungefähr.
Daher will Bildungsminister Heinz Faßmann die Bildungspflicht statt der Schulplicht…
Klingt ja gut, aber was heißt Bildungspflicht bis 18 Jahre? Dass dann einer mit sechzehn immer noch in der 4. Klasse Volksschule sitzen kann, wenn er sich weigert oder es nicht schafft, das Nötige zu lernen. Wem soll das nützen? Der bessere Zugang wäre der umgekehrte. Notenwahrheit zum Beispiel, damit meine ich, dass in einem Zeugnis das stehen dürfen sollte, was jemand tatsächlich kann. Wenn ein junger Erwachsener sein Schuljahr oder auch seine Schullaufbahn mit fünf "Nicht genügend" beendet, dann beendet er sie halt mit fünf "Nicht genügend". Warum sollen die Lehrerinnen Schüler so lange prüfen, bis sie sich dazu bequemen, positiv zu sein? Leistung muss in der Verantwortung eines selbst liegen, nicht in der der anderen.
Die neue Regierung will eine Rückkehr zur numerischen Benotung. Wäre das ein Schritt in die richtige Richtung?
Ob es ab jetzt wieder die fünf Noten gibt oder wie bisher standardisierte Stehsätze, die de facto auf vier Noten hinauslaufen, ist mit Verlaub auch schon egal. Die Noten sind wahrlich auch nicht großen Schrauben, an denen wir drehen müssen, die großen Schrauben sind erstens die Aufwertung der Elementarpädagogik, die endlich den Stellenwert bekommen muss, den sie verdient. In anderen Worten: Die Kindergarten-Pädagoginnen und Volksschullehrerinnen müssen im Bildungssystem die sein, die am meisten verdienen, und sie brauchen die besten Bedingungen, denn sie haben die größte Verantwortung. Zweitens die Inklusion derer, die wir bisher in Sonderschulen versteckt oder links liegen gelassen haben, und drittens die Integration der Parallelgesellschaft.
Lehrer beklagen immer wieder, Zuwanderung und die damit verbundenen Sprachprobleme seien ein Hauptproblem in der schulischen Ausbildung. Sind die Deutsch-förderklassen aus Ihrer Sicht hier ein geeignetes Gegenmittel?
In Wien sind Schulen, in denen 80 Prozent der Kinder eine andere Umgangssprache haben als Deutsch, nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Den Fokus auf den Spracherwerb zu legen, ist also nicht verkehrt. Nur: Wenn das so kommt, wie angekündigt, werden in Wiener Volksschulen siebzehn Kinder aus der Parallelgesellschaft oder mit AO (außerordentliche Schüler) in der Deutschklasse sitzen, wo sie 10 oder 15 Wochenstunden "Mami sagt Mimi" lernen, und in der normalen Klasse acht, denen die Lehrerin die Biene und den Pythagoras erklärt. Wer integriert da also wen? Da werden sich die Eltern der acht schön bedanken.
Ihr Rezept, um dem zu begegnen, wäre also?
Ich bin immer noch der Meinung, dass Geld und Ressourcen vor allem in einen, in jeder Hinsicht gemeinsamen und inklusiven Unterricht fließen müssen, nicht in einen, der überall, wo er nur kann, trennt und damit den Bildungsstatus der Eltern perpetuiert. Man könnte unseren Lehrerinnen viel besser helfen, indem man die Pflichtschule zusammenführt, die Planposten verdoppelt und Unterstützungspersonal einstellt, Fachkräfte aus der Wirtschaft etwa, oder Freizeitpädagoginnen. Dann muss im großen Stil auf Gruppenunterricht umstellt werden, wo in verschiedenen Settings fest individualisiert und differenziert wird, einmal nach Leistung, dann wieder nach Interesse oder schlicht nach Thema. Es muss doch nicht alle gleichzeitig dasselbe interessieren, oder? Aber das muss etwas kosten dürfen.
Geld, das nicht da ist . . .
Das in einem reichen Land wie Österreich natürlich da ist, das aber nicht zur Verfügung gestellt wird. Die Frage ist ja jetzt wieder, auf wessen Kosten die Reform eigentlich gehen wird. Auf Kosten der AHS? Das wäre höchst unfair, denn die Gymnasien haben jetzt schon kein Geld, müssen aber, zumindest in den Städten, die unkontrollierte Gesamtschule schultern. Jetzt will man also in den NMS die Doppelbesetzungen in Deutsch, Mathe und Englisch streichen und auch die Integrationsklassen auf 25 Köpfe auffüllen. Na, Grüß Gott. Ich frage mich schon, wer soll dann noch Lehrerin werden wollen…
Viel Wirbel hat die Idee verursacht, Pädagogen von ihren Schülern beurteilen zu lassen. Wie sehen Sie das?
Positiv. Nur sollte kein Konkurrenzkampf daraus werden. Um es mit Gerald Hüther (Neurobiologe und Lernforscher, Anm.) zu sagen: Durch Konkurrenz können wir das, was wir schon können, vielleicht verbessern, aber für echte Weiterentwicklung braucht es Austausch und Zusammenarbeit. Das gilt für Schüler wie für Lehrerinnen. Im Regierungsprogramm kam das Wort Leistung 14-mal vor und das Wort Zusammenarbeit null mal. Nur ist die Schule halt kein Riesenslalom, wo vorn der Hirscher Erster wird und alle jubeln, weil der Rest eh wurscht ist. Ja, wir sollen die fördern, die ganz nach vorn wollen, aber die gleichzeitig bereit sind, die mitzunehmen, die aus den unterschiedlichsten Gründen hinten bleiben. Elitär – von mir aus, aber nicht statt egalitär.
Künftig sollen Eltern bestraft werden können, wenn die Kinder keine Hausübungen bringen, regelmäßig zu spät zum Unterricht kommen, etc. Ist das der richtige Ansatz?
Ziel muss es sein, Druck wegnehmen, nicht zusätzlichen Druck aufzubauen. Früher war die Schule für den Menschen da, inzwischen haben viele den Eindruck, der Mensch ist für die Schule da. Früher war Bildung ein Recht. Warum ist sie heute eine Verpflichtung, die unter Strafe gestellt wird, wenn man ihr nicht nachkommt? Da stimmt doch etwas nicht.
Minister Faßmann hat diese Woche erklärt, dass die digitale Grundbildung verstärkt werden soll. Sie haben gerade ein Buch geschrieben, in dem sich eine Mathe-Lehrerin am digitalen Irrwitz des Alltags abarbeitet. Eine Kampfansage?
Eine humorvolle Kampffansage gegen den täglichen Irrsinn, der damit einhergeht. Do-it-Yourself-Kassen im Supermarkt, die deine Radieschen nicht erkennen, Call-Center, in denen dich Tonbänder solange im Kreis schicken, bis man auflegt. Menschen, die im strömenden Regen stehen und auf der Wetter-App nachschauen, ob es regnet. Der Handy-Wahn. Insofern ist es richtig, in der Schule zu lernen, damit umzugehen.
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