Wie sehen Sie – gerade vor dem Hintergrund dieser Grundsätze – den Wechsel von der FPÖ zu den Grünen als Koalitionspartner?
Ich persönlich halte das für einen positiven Schritt; ich habe bei der Koalition mit der FPÖ durchaus Bauchweh gehabt, auch wenn ich zur Kenntnis genommen hatte, dass es keine Alternativen gab. Denn die Große Koalition war am Ende und hatte keine Kraft für Reformen mehr – wohingegen gewisse Reformen mit den Freiheitlichen möglich waren. Aber auf Dauer war das wohl, auch aus europäischer Perspektive, kein Renommee. Daher sehe ich die jetzige Zusammenarbeit sehr positiv, denke auch, dass das europaweit beispielgebend ist.
Glauben Sie nicht, dass, wenn „Corona“ nicht mehr alles überlagert, die zweifellos vorhandenen großen ideologischen Differenzen zwischen den beiden Parteien wieder deutlich zutage treten?
Gerade aus einer christlich-sozialen Perspektive wird man vermutlich mehr Gemeinsamkeiten mit den Grünen als mit den Freiheitlichen finden.
Dennoch haben beide Seiten vor dieser Regierungsbildung die Unterschiede in so gut wie allen Politikfeldern immer sehr stark betont, ich sage nur „ordentliche Mitte-Rechts-Politik“ …
Es ist sicher ein neuer, interessanter Weg, den man hier geht. Man soll keine Grundsätze über Bord werfen und trotzdem versuchen, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Und man muss den Mut haben, dass dort, wo man diese Lösungen nicht findet, eben keine Aktivitäten gesetzt werden. Das ist besser als eine schlechte Entscheidung und besser als ein Bruch der Koalition. Man sollte sehen, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Nicht-Gemeinsamkeiten gibt – und ich bin zuversichtlich, dass sich dieser neue, sicherlich nicht einfache Weg, erfolgreich fortsetzen lässt.
Denken Sie, dass sich – wie viele derzeit erhoffen oder auch befürchten – die Krise als ein Game Changer erweist, dass es zu so etwas wie einem Systemwechsel kommt? Oder kehren wir wieder zur „alten Normalität“ zurück?
Ich glaube, dass es schon vor Corona ein gewisses Unbehagen in der Gesellschaft gab, auch wenn es vielleicht nicht so deutlich artikuliert wurde. Das Streben nach immer mehr Gewinn, die Vorstellung, es könne immer nur nach oben gehen, diese rasende Globalisierung, die Auslagerung der Produktion ans andere Ende der Welt – da wird es ein Umdenken, da wird es Veränderungen geben. Nicht, dass die Globalisierung grundsätzlich schlecht wäre – wir brauchen sie etwa auch in der Wissenschaft und Forschung; aber wirtschaftlich müssen wir uns wohl wieder verstärkt auf Europa konzentrieren, nicht zuletzt, um wettbewerbsfähig gegenüber China und den USA zu bleiben.
Apropos Europa: Sehen Sie die Gefahr, dass Europa, die europäische Integration eines der Opfer dieser Krise sein könnte, zu Gunsten einer Renaissance des Nationalstaats oder gar einer Renationalisierung?
Ich setze hier auf eine richtige Interpretation des Subsidiaritätsprinzips. In der gegenwärtigen Krise konnte die EU keine tragende Rolle spielen, weil sie im Gesundheitsbereich – ich denke, aus guten Gründen – einfach keine Kompetenzen hat. Hier waren die einzelnen Mitgliedstaaten gefragt. Es haben ja auch die darunterliegenden Ebenen – Regionen, Kommunen – keine große Rolle gespielt. Nach der Krise wird es freilich darauf ankommen, dass die einzelnen Ebenen wieder zu ihrem Recht kommen. Nationalismus gibt es natürlich, aber den gab es schon vor Corona, und den wird es auch danach geben – aber ich sehe keine Anzeichen, dass er sich weiter ausbreitet.
Bruchlinien verlaufen durch Europa – zwischen Nord und Süd wie zwischen West und Ost. Eine Gefahr für den Bestand der Union?
Ich sehe derzeit die Spannungen zwischen Nord und Süd im Vordergrund. Gäbe es die koordinierende Funktion der EU nicht, dann müsste ein schwer getroffenes Land wie Italien bei den anderen europäischen Staaten einzeln um Hilfe anklopfen. Die integrierende Funktion der EU ist unbestritten und hat sich auch diesmal bewährt. Letztendlich ist auch einiges an Hilfsmaßnahmen zustande gekommen. Und zwar so viel, dass die Frage der Eurobonds gar nicht mehr relevant ist. Wenn sich Italien dennoch auf die Eurobonds fixiert, dann ist das nicht die richtige Haltung.
Und die Differenzen mit den Visegrád-Ländern?
Das sind kleine Provokationen, die hier von Orbán und anderen gerne getätigt werden. Orbán ist halt ein Grenzgänger und versucht die Grenzen auszureizen – aber wenn es darauf ankommt, steckt er letztlich immer zurück.
Wären Sie dafür, seine Partei Fidesz aus der EVP auszuschließen?
Als die Tories aus der EVP ausgetreten sind bzw. man sie hat austreten lassen, hat es mit dem Brexit begonnen. Das brauchen wir nicht noch einmal.
Die Feierlichkeiten dieser Tage und Wochen zu 75 Jahre Zweite Republik, 75 Jahre Weltkriegsende standen im Zeichen der Corona-Krise. Hat diese die Erinnerung überlagert, oder hat das Gedenken dadurch vielleicht sogar an Eindringlichkeit gewonnen?
Man hat meines Erachtens gute Wege gefunden, wie man aus der Situation das Beste machen kann. Man ist sehr sensibel mit diesen Dingen umgegangen und hat damit sicher die gebotene Nachdenklichkeit erreicht.
Sehen Sie eigentlich Demokratie und Rechtsstaat in Österreich hinreichend gefestigt? Auch diesbezüglich sehen manche die Corona-Krise als Bedrohung …
In solchen krisenhaften Situationen gibt es immer einen Machtzuwachs für die Exekutive, sprich die Zentralregierung. Entscheidend ist auch hier: Wie geht es nach der Krise weiter? Da muss es eine Rückkehr zum normalen parlamentarischen Leben geben. Aber ich habe überhaupt keine Sorge, dass das nicht passiert. Ich verstehe gar nicht, dass man das in Zweifel zieht. Was haben wir denn für eine Meinung von uns selbst? Wir haben jede Menge Sicherungen eingebaut – vom Verfassungsgerichtshof über die Medien, die Oppositionsparteien bis hin zur Zivilgesellschaft oder auch zu den Bundesländern als föderales Gegengewicht.
Und wie sieht es mit der Kritik an der Umsetzung der diversen Schutzmaßnahmen aus?
Wenn es um die Abwägung zwischen Freiheits- und Schutzrechten geht, dann haben jetzt einmal die Schutzrechte Priorität gehabt. Aber das wird sich wieder einpendeln.
Noch einmal zurück zum Vogelsang-Institut? Welche Akzente wollen Sie hier als Präsident setzen?
Zum einen: Wir sind ja ein Archiv, wir haben bedeutende Dokumente seit dem Ende des 19. Jahrhunderts betreffend die christliche Demokratie. Und hier möchte ich zu einer Demokratisierung des wissenschaftlichen Betriebes beitragen. Mein Vorbild ist die Nationalbibliothek, die hier eine ungeheure Leistung erbringt. Da möchte ich auch – unseren bescheidenen Möglichkeiten entsprechend – Schritt für Schritt die Digitalisierung vorantreiben. Da müssen sich auch die Parteien öffnen, und das wird auch dazu beitragen, dass man manches etwas entspannter sieht und das parteipolitische Hickhack über zeithistorische Fragen vielleicht ein wenig abnimmt. Der zweite Punkt: Wir wollen Interviews mit Zeitzeugen führen und diese auch online zugänglich machen – und zwar weniger mit Prominenten sondern eher mit kleineren Funktionären etc. Wie haben die die Entwicklungen gesehen und empfunden. Da können sich spannende Perspektiven ergeben.
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