Hugo Portisch und Christoph Leitl: "Russland ist ein europäisches Land"
KURIER: Die Neutralität ist 65 Jahre alt. Müssen wir sie neu definieren?
Hugo Portisch: Eigentlich hat sie sich überlebt. Wir sind von Nato-Staaten umgeben und sowieso geschützt. Aber sie ist von den Leuten verinnerlicht worden. Sie identifizieren sich damit, sind sogar stolz darauf.
Christoph Leitl: In einer zunehmend polarisierten Welt ist sie ein Wert an sich. Das gibt einem kleinen Land wie Österreich ein gutes Gewicht.
Sie sind beide Russland-Kenner, Sie, Herr Portisch, betonen in Ihrem neuen Buch oft, dass Russland ein europäisches Land ist. Ist es das wirklich, wenn man Menschenrechtsverletzungen, mangelnde Pressefreiheit, Cyber-Attacken und die autoritäre Regierung bedenkt?
Portisch: Es gibt nichts daran zu rütteln, dass es ein europäisches Land ist. Eine andere Frage ist, ob es dem europäischen Standard entspricht. Das tut es nicht, wenn ein oppositioneller Politiker mit einem Stoff vergiftet werden kann, der nur staatlichen Organen zugänglich ist.
Leitl: Ich sehe Russland als absolut europäisches Land: die Geschichte, die Kultur – großartig! Selbst die Religion verbindet uns. In Wladiwostok, das nahe bei Tokyo und Peking liegt, sagt man: „Wir sind die östlichste Stadt Europas“. Das hat mich berührt. Die Bevölkerung dort könnte sich ja auch im Zentrum eines dynamischen Asiens sehen, bekennt sich aber mehr zu Europa als viele Europäer selbst.
Ist es bei Alexej Nawalny denkbar, dass ihn ein anderer Geheimdienst vergiftete, um Russland zu schaden?
Portisch: Das kann alles sein. Ganz logisch sind die Vorgänge nicht gewesen. Dennoch ist schwer vorstellbar, dass es ohne Kenntnis der russischen Regierung geschehen ist.
Leitl: Es gibt noch etwas anderes als Beweise: Verantwortlichkeit, wenn so etwas im eigenen Staat passiert. Das zu übernehmen wäre sicherlich hilfreich für Russland. Das Land ist Mitglied im Europarat und sollte sich daher Grundwerten wie Humanität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verpflichtet fühlen.
Russland tritt im Nahen Osten als neue Ordnungsmacht auf und hat sich mit der Türkei und Syrien verbündet.
Portisch: Auch in Afghanistan sind die Russen als Erste einmarschiert. Schon in zaristischen Zeiten wollten die Russen im Nahen Osten mitbestimmen. Wladimir Putin hat den Amerikanern vorgeworfen, mit zweierlei Maß zu messen und ihre Balkan-Politik mit der Krim verglichen. Dort habe es im Gegensatz zum Kosovo immerhin eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Russland gegeben. Putin will zweifellos das alte, das weltmitbestimmende Russland wieder errichten.
Stattdessen gibt es ein kühles Verhältnis zur EU. Nach der Nawalny-Affäre drohen sogar weitere Sanktionen.
Leitl: Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, statt als Waffe eingesetzt zu werden. Wenn wir Europäer weiter die Tür zu Russland zuhalten, macht das nur China stärker. Es werden ja schon Pipelines nach China gebaut.
Die Sanktionen nutzen den USA, die nicht wollen, dass Europa russisches Öl kauft.
Leitl: Das ist genau der Punkt. Wir müssen Unabhängigkeit erlangen von Amerika, und wir brauchen eine strategische Allianz mit allen Teilen der Welt, auch mit Russland. Vor der Krim-Annexion stand die Missachtung Russlands, das den Warschauer Pakt aufgelöst hat, im Gegenzug aber Teil eines globalen Sicherheitssystems werden wollte. Man hat das nicht nur nicht gedankt, sondern die NATO einseitig erweitert. Das war untragbar für die russische Seele. Prinzipiell sind die Russen offen für die Europäer. Es braucht dafür aber eine fest verankerte militärische Neutralität in der Ukraine.
Sollte Russland auch assoziiertes Mitglied der EU sein?
Leitl: Es sollte eine Freihandelszone zwischen Lissabon und Wladiwostok unter Mit-Einbeziehung der Ukraine geben. Diese politischen Scharmützel passen doch eher ins 19. als ins 21. Jahrhundert.
Portisch: Die Russen wollen außerdem eingebunden werden in ein Sicherheitssystem, wo auch Amerika mitmacht. Sie wollen so sicher leben wie andere europäischen Staaten.
Leitl: Diese alte Idee von Michail Gorbatschow müsste man wieder aufgreifen. Sie wäre weltweit von Vorteil.
Hugo Portisch
Der Journalist erklärte den Österreichern im ORF so anschaulich ihre eigene Geschichte, wie es keiner zuvor getan hatte.
1954 hatte ihn Hans Dichand zum KURIER geholt, wo er von 1958 bis 1967 Chefredakteur war. Portisch hat auch zahlreiche Bücher veröffentlicht.
Christoph Leitl
Der Unternehmer und Präsident der Europäischen Wirtschaftskammer (Eurochambres)
war von 2000 bis 2018 WKO-Chef und reiste als unermüdlicher „Botschafter“ der heimischen Wirtschaft um die Welt.
Die Bücher der beiden sind bei ecowin erschienen:
Hugo Portisch: „Russland und wir“
Christoph Leitl: „China am Ziel! Europa am Ende?
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