Reich widerspricht Drosten: "Die Pandemie ist noch nicht vorbei"
Seit Ende 2020 ist Katharina Reich Generaldirektorin für öffentliche Gesundheit.
KURIER: In Spitälern stehen Gangbetten, Ärzte berichten von einer dramatischen Personalnot, jeder Dritte überlegt zu kündigen. Was läuft schief im Gesundheitssystem?
Katharina Reich: Wir sind derzeit in einer anderen Situation als in den zwei Pandemiejahren zuvor, vieles hat sich verändert. Aber auch wenn Experten wie Christian Drosten Anderes sagen: Die Pandemie ist noch nicht vorbei, wir sind noch immer in einer außergewöhnlichen Situation. Zusätzlich zu Covid-19 belasten zwei Infektionskrankheiten – Influenza und RSV – die Spitäler, Patienten müssen isoliert behandelt werden. Das macht das Bettenmanagement sehr komplex. Ich bekomme aus den Ländern unterschiedliche Meldungen. Es gibt Spitäler, da ist es wirklich eng. Anderswo heißt es: Wir kommen gut zurecht. Die gute Nachricht lautet: Bei Influenza ist nur noch mit kurzfristigen Spitzen zu rechnen. Und bei RSV haben wir die Infektionsspitze bereits hinter uns.
Also eh alles in Ordnung?
Wir werden bald zum ersten Mal in eine Situation kommen, wo wir bei den Corona-Wellen nicht im Krisenmodus arbeiten. Was nicht passieren darf ist, dass wir aus der Situation nichts lernen. Die Menschen müssen mehr Gesundheitskompetenz erlangen. Und dazu gehört, schwere Infektionen besser zu vermeiden.
Was heißt das konkret?
Zum Beispiel: Sich impfen zu lassen. Es muss unser Ziel sein, dass die Menschen wissen, wie sie sich schützen und unnötige Infektionen verhindern können. Die Influenza-Impfung gehört jetzt gepusht.
Böse gefragt: Glauben Sie wirklich, dass sich das Image von Schutzimpfungen zuletzt verbessert hat?
Es wird Sie wundern, aber: Ja, das tue ich. Natürlich gab es Kontroversen. Aber die bieten immer eine Möglichkeit, über wichtige Themen zu sprechen. Beim Impfen dürfen wir nicht nur die kleine aber laute Gruppe der Wissenschaftsgegner hören. Der Großteil weiß: Schutzimpfungen gehören zu den größten Errungenschaften der Menschheit. Sie funktionieren und helfen.
Ein Grund der Verunsicherung sind Meldungen, wonach mehr als 500 Medikamente schwer bis gar nicht verfügbar sind. Was läuft schief?
Das ist eine verkürzte Wahrnehmung. Wir hatten in harten Wintern immer Engpässe, das ist nichts Neues. Heuer spüren wir das besonders stark. Nur weil es Lieferketten-Probleme gibt, heißt das nicht, dass wir die Menschen nicht versorgen können. Vieles, was mit Medikamenten zu tun hat, ist nicht national lösbar, das muss auf europäischer Ebene passieren – und das geschieht. In Österreich haben wir die Hausaufgabe gemacht. Bei einem Engpass tritt ein Exportverbot ein, die Bestandslisten von Medikamenten werden nicht monatlich, sondern wöchentlich aktualisiert, und der Pharma-Großhandel ist seit Wochen dabei, Lager und Reserven anzupassen.
Was sind für Sie die zentralen Lehren aus der Pandemie?
Die Pandemie hat uns Instrumente an die Hand gegeben, die bleiben werden. Dazu gehören all die Daten, die wir von den Ländern bekommen – hier hat sich vieles zum Besseren verändert. Ein weiterer Punkt: Die Analyse des Abwassers. Es ist erstaunlich, was wir messen und erfahren können ohne täglich hunderte Abstriche bei Menschen zu machen. Auch was Betten und Stationen angeht, hat sich viel verbessert. Vor der Pandemie waren Abteilungen oft streng getrennt, ein HNO-Patient durfte nicht in ein chirurgisches Bett, etc. All diese Strukturen betrachten wir gesamthafter – und das wird hoffentlich so bleiben.
Hat es sich bewährt, dass jedes Bundesland autonom übers Testen und Impfen entscheidet?
Nicht unbedingt. Homepages, Terminvergaben, Programm-Logos: Vieles im Gesundheitssystem muss einheitlicher werden. Deshalb arbeiten wir auch an einer Anpassung des Epidemiegesetzes. Das aktuelle war nicht dafür ausgelegt, 60.000 Infektionsfälle am Tag zu bewältigen. Entgegen der verbreiteten Meinung hat die Vernetzung zwischen Bund und Ländern aber in vielen Bereichen ausgezeichnet funktioniert.
Was weniger gut funktioniert ist die Versorgung im niedergelassenen Bereich. Am flachen Land fehlen Ärzte, Kassenpatienten müssen zu Wahlärzten ausweichen, weil sie sonst keine Termine bekommen.
Wir müssen den Job des Allgemeinmediziners attraktiver machen. Was wir als Ministerium tun können, tun wir. Derzeit wird der Facharzt für Allgemeinmedizin entwickelt, die neuen Ausbildungspläne sind in Vorbereitung, das Programm soll dieses Jahr ins Laufen kommen. Insgesamt fehlen nicht unbedingt die Ärzte, die Verteilung ist einfach problematisch. Eine Antwort kann die Tele-Medizin sein. Ein Dermatologe muss nicht immer ums Eck sein, da könnte man vieles digital erledigen – das passiert leider zu wenig.
Sie sind quasi amtlich für die Gesundheit der Menschen in Österreich zuständig. Wie geht’s uns?
Wir haben einen Aufholbedarf bei der Gesundheitskompetenz, neudeutsch bei der „health literacy“. Die Menschen müssen wissen, wie sie am besten mit ihrer Gesundheit umgehen, wo sie Gesundheitsförderung bekommen, wo sie wichtige Impfungen, Untersuchungen und Medikamente erhalten.
Aber das wissen die Menschen doch, oder? Symptome werden gegoogelt, viele diagnostizieren sich selbst mit Online-Tools.
Gesundheitskompetenz heißt nicht, dass ich mich selbst therapiere. Sie meint, dass ich einen differenzierten Blick auf das Gesundheitssystem habe, dass ich weiß, wo ich bestmöglich betreut werde, und dass ich mich eben nicht von windigen Internetseiten und selbst ernannten Experten verwirren lasse. Am Ende heißt Gesundheitskompetenz: Ich weiß, wie ich bestmöglich gesund alt werde.
Genau da haben wir laut Studien aber sehr viel Luft nach oben.
Absolut. Wir werden in Österreich sehr alt, aber in unseren letzten zehn Lebensjahren sind wir im Schnitt oft sehr krank. Was können wir dagegen tun? Möglichst im Kindes- und Schulalter gegenhalten. Kinder müssen wissen, warum die Zucker-Schaumrolle viel billiger ist als das Sackerl Radieschen. Ich bin ja generell Optimistin – und hier besonders: Die junge Generation hat einen anderen, einen kritischeren Zugang zu Alkohol und Rauchen. Dabei müssen wir sie unterstützen.
Ihr Start war durchwachsen – und das ist vermutlich noch zu positiv gesagt. Als Katharina Reich im Jänner 2021 ihr erstes Interview in der ZIB2 gab, erntete sie Häme. Der Boulevard ätzte über einen „Desaster-Auftritt“, die neue Direktorin für die öffentliche Gesundheit sei bei der Impfkampagne-Kampagne vage und unprofessionell. Selbst in „normalen Zeiten“, also ohne eine Pandemie, tun sich Experten schwer mit dem Wechsel in die Gesundheitspolitik.
Hier mischen mächtige Lobbys wie die Ärzte- und Apothekerkammer mit, das System ist kompliziert. Und die Tatsache, dass das Thema – Gesundheit – für alle elementar und emotional ist, macht die Herausforderung nicht kleiner.
Zwei Jahre nach ihrem „Desaster-Auftritt“ gilt Reich als unumstritten. Wie ist ihr das gelungen? Zunächst hat sie sich nicht durch die Startschwierigkeiten entmutigen lassen. Vor allem aber hat die Quereinsteigerin verstanden, dass es in der Politik keine schnellen Erfolge gibt und man sich nur um Dinge kümmern soll, die man beeinflussen kann. Abläufe, für die andere – etwa die Länder – verantwortlich sind, versuchte sie nicht zu reformieren. Ideologie interessiert die 45-jährige Wienerin nur am Rande. „Mich interessiert, wie wir die Menschen bestmöglich versorgen“, sagt Reich in kleiner Runde. Das sei im Spital ihr Job gewesen. Und das tue sie nun auch als Sektionschefin.
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