„Putsch“, Proteste und Ausgangssperre: Tunesien im Chaos
Soldaten, die das Parlament umstellen, aufgebrachte Demonstranten, die lautstark Einlass begehren, Straßenschlachten zwischen Anhängern des Präsidenten und Gefolgsleuten des Parlamentspräsidenten. Die Stimmung in Tunesien war schon einmal stabiler.
Wirtschaftskrise, Korruption - und Corona
Doch wirtschaftlicher Niedergang und harte Corona-Maßnahmen hatten in den vergangenen Tagen immer mehr Menschen auf die Straße getrieben. Zu wenig habe die Regierung unternommen, zu stark sei die Korruption – sie müsse weg, hatten die Demonstranten gefordert. Präsident Kais Saied reagierte in der Nacht auf Montag, setzte den parteilosen Regierungschef Hichem Mechichi ab, legte die Arbeit des Parlaments für 30 Tage auf Eis und kündigte an, die Immunität der Abgeordneten aufzuheben.
Das Militär ist klar auf der Seite Saieds, der Montagabend auch die Minister für Justiz und Verteidigung entließ und eine nächtliche Ausgangssperre bis mindestens 27. August verhängte. Sie gelte täglich zwischen 19.00 Uhr und 06.00 Uhr, hieß es in einer Erklärung.
Ausnahmen gebe es nur für medizinische Notfälle und Nachtarbeiter. Zudem dürfen sich nicht mehr als drei Menschen in der Öffentlichkeit treffen.
„Kein Staatsstreich“
Saied, dessen Unterstützer auf den Straßen feierten, weist den Vorwurf eines Staatsstreichs zurück. In den Augen seiner Gegner hat der Präsident, der seit 2019 im Amt ist, aber genau das im Sinn.
Parlamentspräsident Rached Ghannouchi von der islamischen Regierungspartei Ennahdha forderte seine Anhänger gestern zum Marsch aufs Parlament auf. Er selbst hielt einen Sitzstreik ab, protestierte dagegen, dass Saied die 2014 geschaffene Verfassung torpediere, die vorsieht, dass sich Präsident und Premierminister die Macht teilen.
Indes stürmten Sicherheitskräfte das Büro von Al Jazeera. Die Polizisten hätten Telefone und anderes Gerät beschlagnahmt, berichtete der Sender, der von der Regierung Katars finanziert wird. Laut Kritikern bietet er Muslimbrüdern und anderen Islamisten zu viel Raum.
Flucht nach Europa
Tunesien ist das einzige Land der Region, das nach dem Arabischen Frühling den Übergang zur Demokratie geschafft hat. Seit dem Sturz von Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali im Jahr 2011 gab es jedoch mehr als zehn Regierungswechsel; das Misstrauen gegenüber der Politik ist groß.
Derzeit ist Tunesien neben Libyen das Land, von dem aus die meisten Flüchtlinge und Migranten per Boot in Richtung Europa aufbrechen. Im Juni registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 4.700 Menschen, die das Mittelmeer auf der zentralen Route überquert hatten. Den größten Anteil würden Tunesier und Bangladescher ausmachen. Vor allem Italien steht in regen Kontakt mit Tunesien, kündigte kürzlich an, der Regierung 200 Millionen Euro für verbesserten Grenzschutz zu zahlen.
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