Hier hat Thomas Schmid selbst ausgelotet: Wie weit kann ich gehen? Er stellt sich selbst die Frage: "Bin ich nicht zu weit gegangen?" Aber dann stellt er fast triumphal fest: "So weit bin ich noch nie gegangen. Seht her, was ich für ein mutiger Mensch bin." Natürlich ist hier ein narzisstisches Geschehen zu beobachten. Allein die enorme Anzahl von 300.000 Chats zeigt einem forensischen Psychiater, dass ein hohes Maß an Eigensucht geherrscht hat. Das äußerst sich auch an der Beschämung der honorigen Menschen in den Chats. Diese Beschämungskultur macht sich immer mehr in unserer Gesellschaft breit. Es geht nicht mehr um sachliche Themen, sondern um Beschämung. Insgesamt gesehen ist das eine bedenkliche Entwicklung, denn man nimmt den Menschen die Scham, die letztlich ein Schutzfaktor ist. Die Gesellschaft wird dann tatsächlich schamlos. Wenn die Sprache der Demütigung und Entwertung von Menschen gewählt wird , die eigentlich Vorbilder sein sollten, ist das verhängnisvoll.
Ist es nicht erstaunlich, dass gerade eine Generation, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist, über Chats stolpert ?
Das hat mich auch verwundert. Sie hätten wissen müssen, dass solche Chats rekonstruierbar sind. Dass sie so unvorsichtig waren, entspricht den alten Weisheiten über den Narzissmus. Die große Gefahr am Narzisstischen ist: Man ist nicht mehr geerdet, man hebt ab, ist nicht mehr mit der Wirklichkeit verbunden.
Ex-ÖBAG-Chef Thomas Schmid hat einige mittlerweile legendäre Chats geschrieben, die zeigen, dass er versucht hat, alles für Sebastian Kurz möglich zu machen. War Kurz auch ein "Getriebener" seines Fanklubs?
Der stärkere Faktor war sicher die Dynamik der Positivzuwendung, die Kurz durch die Partei, die Öffentlichkeit und die Medien bekommen hat, als dass er sich zu einer Marionette seines Fanklubs gemacht hätte. Diese Chats zeigen, dass Kurz kein Messias, keine Lichtgestalt, kein Heiliger ist, sondern dass er unvermutete Eigenschaften hat. Als Politiker hat er ein neues System und eine neue Denkweise versprochen. Das andere Qualitätsmerkmal an ihm war, dass er nach außen hin immer sehr höflich auftrat. Er hat nie jemanden verletzt oder untergriffig attackiert. Dieses Bild wurde nun zerstört.
Braucht man für den Umgang mit Macht mehr Lebenserfahrung, als sie ein Sebastian Kurz mit 30 hatte?
Das Machtbedürfnis ist in jedem Menschen vorhanden. Jede Beziehung ist im Prinzip auch ein Machtkampf. Es geht immer darum, wer bringt mehr in die Beziehung ein, wer wird mehr oder wer wird weniger geliebt. Politische Macht muss etwas Drogenhaftes haben – vor allem für Männer. Es gibt keinen anderen Grund, warum man in die Politik geht: Außer Macht ist nicht viel Anziehendes vorhanden, warum man Politiker werden will. Bei einem jungen Menschen beherrscht das Machtstreben die Person. Bei einem lebenserfahrenen Menschen ist es umgekehrt: Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch mit der Macht richtig umgehen kann, jedenfalls größer.
Es ist schon bezeichnend, dass es rund um Jörg Haider eine Buberlpartie gab, und jetzt sind es wieder Vertraute rund um Kurz, die das Machtspiel dominiert haben. Leben Frauen Machtspielchen in anderen Bereichen des Lebens aus, die bei der politischen Macht offenbar selten eine Rolle spielen?
Das narzisstische Element ist in der Machtsituation ganz zentral. Der Narzissmus ist in einem Verhältnis 70:30 zuungunsten der Männer verteilt. Der männliche und der weibliche Narzissmus ist sehr unterschiedlich. Der männliche ist sehr aggressiv, geht auf Kosten anderer, und die männliche Machtausübung ist primitiv. Der weibliche Narzissmus ist eher auf der emotionalen Ebene zu finden. Frauenmörder beispielsweise empfinden sich häufig als Opfer, weil sie sich von den Frauen emotional unterdrückt fühlen.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat sich für das Sittenbild entschuldigt. Sebastian Kurz meidet das Wort "Entschuldigung", umschifft es mit anderen Erklärungen. Warum tut sich Kurz bei dieser Geste so schwer?
Das ist wirklich bedauerlich, dass sich der Bundespräsident für die politische Elite entschuldigen muss. Sich nicht zu entschuldigen, ist ein No-Go. Das zeigt, dass man kein Unrechtsbewusstsein besitzt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Kurz tatsächlich leidtut. Er würde es wahrscheinlich wieder so machen, wenn er nicht wüsste, was die Folgen und Konsequenzen sind. Diese Weigerung, eine Entschuldigung zu leisten, ist keine Stärke, sondern psychologisch gesehen eine ganz große Schwäche.
Innerhalb von zwei Jahren erlebt Österreich, wie zwei Spitzenpolitiker an ihrer Hybris scheitern. Was bewegt das bei einer Gesellschaft, wenn sie ständig von Skandalen gebeutelt wird?
Das wirklich typisch Österreichische an der Geschichte ist das enorme Interesse der Öffentlichkeit an den Dingen, die sich im zwischenmenschlichen und emotionalen Bereich abspielen. In der ganzen Diskussion kommt das Sachliche viel zu kurz. Über die Machenschaften, die Entwertung von Persönlichkeiten hingegen wird heftig diskutiert. Warum sind aus dieser Kultur die großen Psychologen wie Sigmund Freud, Paul Watzlawick, Viktor Frankl hervorgegangen? Weil sie eben in einem Psychotop aufgewachsen sind, wo die leidenschaftlichen und nicht die kognitiven Aspekte eine große Rolle spielen.
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