Die Corona-Protokolle: Was alles schiefgelaufen ist
Es gibt keine Namen. Eine Anwesenheitsliste? Das ja. Aber wer genau was im "Beraterstab der Taskforce Corona" gesagt hat, das ist in den zugänglichen Protokollen dieses hochrangigen Gremiums nicht vermerkt.
Die Virologen, Mathematiker und Epidemiologen sollen vor Repressionen und Anfeindungen geschützt werden. Und das ist irgendwie nachvollziehbar. Immerhin geht es bei den Treffen um elementare Fragen. Fragen wie "Können Masken die Epidemie wirklich bremsen?" oder "Wie gefährlich sind öffentliche Verkehrsmittel für die Ansteckung?"
Seit Februar trifft sich der Beraterstab des Gesundheitsministeriums regelmäßig. Und dessen Protokolle sind eine Offenbarung. Dahingehend, was Experten und die Bevölkerung seit damals gelernt haben; aber auch, was alles schiefgelaufen ist.
Der KURIER bringt einen Auszug der wichtigsten Sitzungstage:
28. Februar, die Premiere
Zu Mittag um halb eins trifft sich im Gesundheitsministerium zum ersten Mal der Beraterstab der Taskforce Corona. Die Teilnehmer – darunter Fachleute aus dem Haus sowie Österreichs renommierteste Epidemiologen und Virologen – stellen sich vor. Es wird vorab klargestellt, dass die Experten als Einzelpersonen keine Haftungen für ihre Einschätzungen übernehmen – im Hinblick darauf, was Wochen später mit dem Lockdown und dem Milliarden Euro teuren Herunterfahren der Wirtschaft passiert, ist das nicht ganz irrelevant.
Die Stimmung ist ernst: Ein Experte warnt, die Reagenzien, die man für die Covid-19-Testungen braucht, würden bereits knapp. Außerdem seien momentan in Österreich maximal 1.200 Tests pro Tag zu schaffen (zum Vergleich: bei den Massentests vor wenigen Tagen war Wien allein auf 150.000 Tests pro Tag eingestellt). Schon an diesem ersten Sitzungstag ist klar: Es gibt zu wenig Schutzausrüstung, um die mögliche Epidemie zu stemmen. Die Experten überlegen daher, ob man nicht alle im Land vorhandenen Schutzmasken einsammeln und für die Spitäler zurückhalten muss.
3. März, die ersten Modellrechnungen
Im Vergleich zur ersten Sitzung ist die Stimmung noch angespannter. Es ist unumstößlich: Masken und Schutzanzüge werden knapp werden. Also wird diskutiert, ob das vorhandene Material mit Alkohol, Chemikalien, UV-Licht oder Kobalt desinfiziert und wiederverwendet werden könnte.
Erste mathematische Modelle machen die Runde: Ab einer Prävalenz von fünf Prozent, also 450.000 Kranken, kollabiere das Gesundheitssystem, heißt es.
Laut europäischer Seuchenbehörde wären alle Menschen, die mit einem Corona-Kranken ein öffentliches Verkehrsmittel teilen, Kontaktpersonen. Der Beraterstab verwirft das: Es sei "praktisch kaum durchführbar".
Kalenderwoche 12
"Am Mittwoch hab' ich die Budgetrede in den Mistkübel geschmissen." - Finanzminister Gernot Blümel.
"Ich denke grundsätzlich, die Gesamtvorgangsweise war richtig." - Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg.
Kalenderwoche 14
"Wir werden auch in Österreich bald die Situation haben, dass jeder irgendjemanden kennt, der an Corona verstorben ist." - Bundeskanzler Sebastian Kurz
"Das ist ein Licht am Ende des Tunnels." - Gesundheitsminister Rudolf Anschober. (Bundeskanzler Sebastian Kurz wiederholte diesen Satz in Kalenderwoche 35. Wenig später kam der Lockdown.)
Kalenderwoche 15
"Ich habe Eigenerfahrung durch den Militärdienst. Damals habe ich mir die Haare selbst geschnitten, aber meine Frau hat mir den letzten Schliff gegeben, sonst wäre ich sicherlich nicht kameratauglich." - Innenminister Karl Nehammer.
Kalenderwoche 16
"Wir sind sozusagen die Flex, die Trennscheibe für die Gesundheitsbehörden, um die Infektionskette rasch zu durchbrechen." - Innenminister Karl Nehammer.
Kalenderwoche 18
"Wenn das so weiter geht, wird bald jeder von uns einen Unternehmer kennen, der nicht mehr überleben kann." - Sepp Schellhorn (NEOS).
"Ich lese Edgar Wallace und übe die Pension." - Steirischer Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer.
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Kalenderwoche 21
"Ich bin nicht dazu da, dem Herrn Nehammer seine persönlichen Wünsche zu befriedigen." - Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker.
Kalenderwoche 22
"Wir haben uns dann verplaudert und leider die Zeit übersehen." - Bundespräsident Alexander Van der Bellen nachdem er nach der Sperrstunde noch im Schanigarten eines Lokals angetroffen worden war.
"Es war gut, dass am 1. Mai die Friseure wieder aufgesperrt haben, und ich habe das wie viele andere auch gleich genutzt." - Kanzler Sebastian Kurz.
Kalenderwoche 23
"Jetzt heißt es Mundschutz runter, Ärmel rauf." - Vizekanzler Werner Kogler.
"Die lasst mich gar nicht reinreden. Widerwärtiges Luder" - Tirols Agrarlandesrat Josef Geisler.
Kalenderwoche 24
"Wenn Sie den Koffer packen, vergessen Sie den Hausverstand nicht." - Außenminister Alexander Schallenberg.
Kalenderwoche 26
"Man bleibt auch nach drei Tagen Italien ein guter Mensch." - Vizekanzler Werner Kogler, zum Thema ob man heuer nur in Österreich Urlaub machen solle.
Kalenderwoche 27
"Gesundheitsminister und Innenminister haben die grundsätzliche Eigenschaft, sich Sorgen zu machen." - Innenminister Karl Nehammer.
Kalenderwoche 31
"Wir sind die Partei der Arbeit, nicht des Burn-outs." - Max Lercher.
Kalenderwoche 32
"Ein schöner Tag zuhause: draußen trommelt der Dauerregen, im Haus aufarbeiten von Aufgeschobenem - Dauertelefonate und Hemden bügeln." - Sozialminister Rudolf Anschober.
Kalenderwoche 34
"Reißt Euch zusammen und übernehmt auch Verantwortung!!" - Gesundheitsminister Rudolf Anschober.
Kalenderwoche 35
"Es kann nicht sein, dass die Gefährdung durch die Kontrollen größer ist als durch das Virus." - Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser.
Kalenderwoche 36
"Machen Sie Ihren Job und weniger Pressekonferenzen." - NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger.
"Wenn wir uns im Herbst und Winter zusammenkuscheln, dann kuschelt das Virus mit." - Vizekanzler Werner Kogler.
"Ich habe so viele Antibiotika-Therapien hinter mir, ich glaube, wenn mich das Coronavirus nur gesehen hat, dann hat es sich schon weinend umgedreht." - Wiens Altbürgermeister Michael Häupl.
Kalenderwoche 38
"Der Weg von der Hirnlosigkeit bei wenigen zur Arbeitslosigkeit bei sehr vielen ist ein sehr kurzer." - Wirtschaftskammer-Chef Harald Mahrer.
Kalenderwoche 39
"Je später der Abend, desto weniger kontrollierbar ist die Problematik der Infektion." - Finanzminister Gernot Blümel.
"Die Corona-Ampel wird uns noch sehr viel Freude bereiten." - Gesundheitsminister Rudolf Anschober.
Kalenderwoche 47
"Jetzt bekommen alle Österreicher die Rechnung für das Managementversagen der Bundesregierung präsentiert." - SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner,
Kalenderwoche 48
"Wenn Sie Weihnachten in Ruhe feiern wollen, dann lassen Sie sich nicht testen." - FPÖ-Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch.
Kalenderwoche 49
"Das Virus kommt ja nicht durch den Gulli und springt jemanden in der Wohnung an." - Vizekanzler Werner Kogler.
Kalenderwoche 50
"Alles, was sich bewegt, wird getestet. Alles, was sich nicht bewegt, wird desinfiziert." - Ein Unteroffizier des Bundesheeres.
Kalenderwoche 51
"Schluss mit der Salami-Taktik - einmal dort ein bisschen nachgeben, dann da. Wir müssen jetzt alles schließen - Geschäfte, Schulen, Gastronomie, Skilifte." - Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil.
"Ganz allgemein ist es nun einmal so, dass wir alle von Covid genervt sind" - Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
9. März, Ischgl wird erstmals erwähnt
Gesundheitsminister Rudolf Anschober eröffnet die Sitzung mit einer Klage: Europa tritt nicht geschlossen auf, jedes Land entscheidet selbst, ob Fußballstadien gesperrt und Konzerte abgesagt werden. Das Exportverbot der Deutschen wird "problematisch gesehen" – eine höfliche Umschreibung der Realität. Tatsächlich stehen Lkw mit bezahlter Schutzkleidung für Österreich an der Grenze in Bayern und dürfen nicht ausreisen.
Zum ersten Mal werden Intensivstationen als "Bottlenecks" bezeichnet. Auch ein Tiroler Bergdorf wird erwähnt: In "Ischgl" sei es "offenbar zu zahlreichen Übertragungen in einer Diskothek" gekommen.
Der Beraterstab ist sich einig, dass ältere Menschen in Heimen geschützt werden müssen. "Kinder müssen von den Großeltern ferngehalten werden", fordert ein Mitglied. Das Problem dabei: Derzeit sei "nicht das Bewusstsein da, dass sich die Menschen entsprechend verhalten".
Auch eine Idee, die nie realisiert wird, kommt plötzlich auf den Tisch: Es wird über ein "Lazarett-Modell" nachgedacht. Der Plan: Es soll "Hotels" geben, in denen Patienten versorgt werden, die nicht alleine zu Hause bleiben können, die aber "zu gesund" fürs Spital sind.
Ein Experte bringt in der Sitzung eine Rechnung, die alles dominieren wird, was die Regierung in den nächsten Tagen kommuniziert: Minus 25 Prozent bei Kontakten heißt minus 58 Prozent bei den Erkrankungsspitzen.
Ein Teilnehmer warnt mit einer Aussage, die heute so stimmt wie damals: Die größte Gefahr in der Pandemie gehe von "privaten Feiern" aus.
12. März, die Warnung vor der "Kernschmelze"
Zum ersten Mal ist Bundeskanzler Sebastian Kurz im Gremium mit dabei. Die WHO hat Covid-19 mittlerweile zur Pandemie ausgerufen. Es ist der Tag, bevor der erste Lockdown verkündet wird. Einzelne Kommissionsmitglieder verzweifeln an den Bürgern: "Es gibt kein Erwachen der Bevölkerung", befindet einer verbittert – und das obwohl die "Kernschmelze des Gesundheitssystems" drohe.
Die Mobilfunkanbieter machen der Regierung ein Angebot: Man könne jedem Österreicher ein Info-SMS schicken. Die großen Lebensmittelkonzerne sind ebenfalls alarmiert: Zwar ist genug Ware für mehrere Wochen vorhanden. Trotzdem drohen in den Zentrallagern Engpässe, weil Mitarbeiter aus Ungarn und der Slowakei nicht zur Arbeit erscheinen dürfen – die Grenzen sind dicht. Nun soll das Bundesheer aushelfen.
Die Haltung der Bevölkerung macht den Experten ernsthafte Sorge. Was aber tun? Ein Experte bringt das Beispiel Großbritannien: Die Masernepidemie in den 90ern wird als Erfolgsmodell beschrieben – man habe mit der Angst der Bevölkerung gearbeitet. Die Österreicher müssten vor einer Ansteckung Angst haben bzw. Angst davor bekommen, dass Angehörige sterben. Im Gegenzug sei ihnen die Sorge vor einer Lebensmittelknappheit zu nehmen.
9. April, der Impfstoff ist der Hoffnungsträger
Ein Mitglied der Kommission fragt offen, ob man langfristig an die Herdenimmunität glaubt. Das wird aus vielerlei Gründen auch vom Gesundheitsminister verneint. Es gibt ab diesem Tag nur eine Hoffnung: eine Impfung.
9. September, die Pandemie ist offenbar vergessen
Nach einer längeren Sommerpause mit vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen und wenig Koordinationsbedarf schwant den Experten Übles: Einzelne äußern das Gefühl, dass die Österreicher keine Lust mehr auf Abstand und die Verwendung von Masken haben. Stattdessen verhalte man sich, "als hätte es die Pandemie nie gegeben". Ein Problem bemängeln Sitzungsteilnehmer unverändert: Immer noch warte man vier bis fünf Tage auf ein Testergebnis.
Bemerkenswert ist, was unter Tagesordnungspunkt 1 über die Infektionszahlen steht: "In der vergangenen Gefahreneinschätzung […] wurde kommuniziert, dass es bei ca. 90 Neuinfektionen pro Tag problematisch würde."
22. September, die Bevölkerung ist gespalten
Die Expertenrunde ortet ein großes Problem im Vergleich zum Frühjahr: Es komme derzeit "zu einer Spaltung der Bevölkerung" – ein Teil sei "nicht mehr bereit, alle Maßnahmen mitzutragen".
8. Oktober, die Krise ist auch ein Geschäft
Die Experten unterhalten sich unter anderem über die Corona-Tests, und es wird klar, dass die Pandemie – auch – ein Geschäft ist. Bis zu 200 Euro verrechnen Privatlabore für die Diagnostik. Die staatsnahe AGES sagt, sie schafft es um 50 bis 55 Euro pro Fall. Ein Sitzungsteilnehmer bietet daraufhin an, noch einmal Gespräche mit Vertretern der Privatlabors zu führen.
27. Oktober, das Schwindeln beim Contact-Tracing
Warum die Infektionszahlen nun so dramatisch steigen, ist nicht endgültig geklärt. Klar ist nur: Die Österreicher machen nicht mehr mit beim Contact-Tracing und zeigen das, was Experten "Ausweichverhalten" nennen: "1∕3 der infizierten Personen", so wird nüchtern festgehalten, gebe "die Kontaktpersonen nicht richtig an".
9. November, die Angst vor der Quarantäne
Die Berater bemerken, dass die Österreicher des Testens müde sind. Der Grund: Sie haben „Angst vor Konsequenzen“ – Quarantäne und Jobverlust sind wichtiger als das Wissen um die eigene Gesundheit.
17. November, die Skepsis gegenüber den Massentests
Im letzten verfügbaren Protokoll wird festgehalten, dass sich "ein wesentlicher Teil des Beraterstabs" gegen die Massentestungen ausspricht. Der Grund: Es werde eine "falsche Zuversicht" vermittelt, dass man damit "ein normales Weihnachtsfest mit der Familie" haben könne.
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