Österreich erlebt wieder einmal eine Regierungskrise. Nachdem Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) gegen den Willen des Koalitionspartners bei einem Treffen der EU-Umweltminister für die umstrittene Renaturierungsverordnung gestimmt hatte, warf Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ihr einen "Vertragsbruch" sowie Amtsmissbrauch vor.
Doch damit nicht genug: Nehammer erklärte auch, vor dem Europäischen Gerichtshof (EUGh) eine Klage gegen Gewessler einbringen zu wollen. Auch die ÖVP selbst zeigte die grüne Ministerin wegen Amtsmissbrauchs an.
Die spektakuläre inner-koalitionäre Auseinandersetzung blieb am Montag natürlich auch der internationalen Presse nicht verborgen. Lesen Sie hier eine Auswahl an Pressestimmen:
Süddeutsche Zeitung (Deutschland): "Die Grünen führen die Schwarzen vor"
"Das, was sich in Deutschland viele Gegner der Ampel wünschen, könnte in Österreich schnell Realität werden: das Ende der Koalition. Das Ja der grünen Umweltministerin Leonore Gewessler zum EU-Renaturierungsgesetz, gegen den Willen der ÖVP, hat bei der größeren Regierungspartei zu ungewohnt heftigen Reaktionen geführt.
Deren Generalsekretär hat am Montag die Grüne allen Ernstes wegen Amtsmissbrauchs angezeigt, außerdem hat die Partei mit einer sogenannten Ministeranklage durch das Parlament vor dem Verfassungsgerichtshof gedroht. Und dann hat Bundeskanzler Karl Nehammer auch noch angekündigt, gegen das Abstimmungsverhalten des grünen Partners vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.
An den Tatsachen in Brüssel und dem so überfälligen Naturschutzgesetz ändern solche Lächerlichkeiten nichts mehr, auch wenn die ÖVP in Wien tobt. Österreich hat dem Gesetz im Europäischen Rat am Montag mit dem Votum seiner Umweltministerin eine Mehrheit verschafft; nun kann es mit Leben gefüllt werden. Daran werden innenpolitische Streitereien nichts mehr ändern.
In Wien geht nun der EU-Wahlkampf nahtlos in den Wahlkampf über für den Nationalrat, denn in drei Monaten wird gewählt. Das ist auch der Grund für das Gezeter bei den Schwarzen und für die staatstragenden Töne bei den Grünen. Die haben sich mit einem Kernanliegen, dem Umweltschutz, endlich in eine entscheidende Konfrontation mit dem dominanten Koalitionspartner gewagt.
Ihr Kalkül: Das freut die grüne Klientel, außerdem wird das Renaturierungsgesetz laut Umfragen inhaltlich von der Mehrheit der Bevölkerung gestützt. Deshalb schlägt die ÖVP um sich und redet von einer Gefahr für den Rechtsstaat. Sie weiß: Sie wird gerade vorgeführt. Sollten die Schwarzen nun die Koalition beenden, haben sie auch den Schwarzen Peter. Keine gute Lage, so kurz vor der Wahl."
Neue Zürcher Zeitung (Schweiz): "Österreichs Bundeskanzler wirft seiner Umweltministerin Verfassungsbruch vor und will klagen"
"Die Zustimmung zur umstrittenen EU-Renaturierungsverordnung hat in Österreich eine schwere Regierungskrise ausgelöst und bringt der zuständigen Umweltministerin sogar eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs vom Koalitionspartner ein. (...)
Die anstehende Wahl dürfte auch der Grund für das Vorgehen der Umweltministerin sein. Den Grünen wurde von ihrer Basis immer wieder vorgeworfen, gegenüber der ÖVP zu viele Kompromisse zu machen. Nun will Gewessler im Kernthema ihrer Partei punkten und zeigen, dass man den Konservativen durchaus die Stirn biete.
Gleichzeitig sind der ÖVP die Hände gebunden für ein noch schärferes Vorgehen. Die Partei hat selbst noch einige Anliegen bis zum Herbst, allen voran will sie wiederum einen eigenen Vertreter in die künftige EU-Kommission entsenden. Dafür ist sie auf die Stimmen der Grünen angewiesen."
Le Monde (Frankreich): "EU verabschiedet Renaturierungsgesetz, da österreichische Ministerin dem Kanzler trotzt"
"Die Mitgliedsländer der Europäischen Union haben am Montag dem EU-weiten Gesetz zur Wiederherstellung der Natur endgültig zugestimmt, nachdem die österreichische Klimaministerin ihrem Kanzler getrotzt hatte, um es zu unterstützen. Der Sinneswandel von Leonore Gewessler verschaffte dem Gesetz die notwendige Mehrheit zur Annahme.
Der österreichische Kanzler Karl Nehammer erklärte ihre Entscheidung für "rechtswidrig". Nehammer, der der konservativen ÖVP angehört, die gemeinsam mit den Grünen in der Regierung ist, kritisierte den Schritt seiner Ministerin scharf.
Vor der Abstimmung am Montag erklärte sein Büro, dass es "die belgische Ratspräsidentschaft (der EU) darüber informiert habe, dass die Zustimmung von Bundesministerin Gewessler zur EU-Renaturierung rechtswidrig sei." Der belgische Umweltminister Alain Maron erklärte, dies sei als "interner Streit in Österreich" angesehen worden und betonte, dass die Abstimmung endgültig sei."
Guardian (Großbritannien): "EU-Renaturierungsgesetz sorgt für Empörung in Wien, wo Klimaministerin von Koalitionspartnern mit rechtlichen Schritten bedroht wird"
Die EU hat nach einer knappen Abstimmung ein wegweisendes Gesetz zum Schutz der Natur verabschiedet und damit einen monatelangen Stillstand unter den Mitgliedsstaaten beendet, die von heftigen Protesten der Landwirte verunsichert waren. Doch ein Sinneswandel in letzter Minute der österreichischen grünen Klimaministerin, deren Stimme dem Vorschlag zur Annahme verhalf, führte zu Empörung in Wien.
Die Partei des Kanzlers Karl Nehammer kündigte an, Strafanzeige gegen sie wegen angeblichen Amtsmissbrauchs zu stellen. (...) In einem außergewöhnlichen Ausdruck der Spaltung im Herzen der österreichischen Koalitionsregierung schrieb Nehammer vor der Abstimmung an die belgische Präsidentschaft des EU-Rates und forderte sie auf, die Unterstützung seiner Ministerin zu ignorieren und argumentierte, dass sie nicht das Recht habe, diese Position einzunehmen. Gewessler schrieb in einem separaten Brief, dass die Vorwürfe des Kanzlers „nicht korrekt“ seien.
(...) Gewessler, die sich nach ihrer Abstimmung in einer rechtlichen Grauzone zu befinden scheint, kündigte am Sonntag an, dass sie das Gesetz unterstützen werde, nachdem sie rechtlichen Rat eingeholt hatte. (...) Der öffentliche Streit hat die höchsten Ebenen der österreichischen Politik erreicht und droht, die Koalitionsregierung aus den Grünen, die das Umweltministerium kontrollieren, und Nehammers Mitte-rechts-ÖVP, die das Landwirtschaftsministerium kontrollieren, zu zerreißen."
Bloomberg (USA): "Wie eine österreichische Ministerin das meistgehasste EU-Klimagesetz rettete"
Das Renaturierungsgesetz wurde am Montag verabschiedet, nachdem Leonore Gewessler, die österreichische Klimaministerin, trotz des Widerstands von Kanzler Karl Nehammer, ihrem Vorgesetzten, die entscheidende Stimme abgegeben hatte. Es verpflichtet die EU nun, bis Ende des Jahrzehnts 20 Prozent ihrer Lebensräume — von Wäldern bis zu Feuchtgebieten — in einen guten Zustand zu versetzen.
„In 20 oder 30 Jahren, wenn ich mit meinen zwei Nichten spreche und ihnen die Schönheit unseres Landes und dieses Kontinents zeige, und sie mich fragen: ‚Was hast du getan, als alles auf dem Spiel stand?‘, möchte ich ihnen sagen können, dass ich so viel getan habe, wie ich konnte“, sagte Gewessler vor dem Treffen der EU-Umweltminister, bei dem eine endgültige Einigung erzielt wurde.
Der Konflikt wird voraussichtlich die österreichische Regierung vor den Wahlen im September weiter belasten, aber für Gewessler war es ein Preis, den es zu zahlen galt. Und es sieht so aus, als ob sie geschickt die Schwächen von Kanzler Nehammer genutzt hat, da die öffentliche Meinung in Österreich kürzlich Unterstützung für das Gesetz zeigte.
Nehammer versprach, die Entscheidung anzufechten, und beschrieb die Handlungen seiner Ministerin als Vertrauensbruch. Er verzichtete jedoch auf entschlossenere Maßnahmen, wie zum Beispiel die Auflösung der Koalition mit Gewesslers Grünen. Unterdessen ist angesichts der Gegenreaktionen der Landwirte, einer großen Lobbygruppe in der EU, unklar, ob Brüssel in den kommenden Jahren in Bereichen wie der Landwirtschaft viel mehr tun kann.
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