Andreas Matthä über verspätete Züge, teure Tickets und einen Rekord. Der ÖBB-Chef bricht eine Lanze für die Politik und spricht über seinen Plagiatsvorwurf.
2023 sei die ÖBB nicht „vom Glück verfolgt gewesen“, kommentiert deren Vorstand ausgefallene wie überfüllte Züge. Wer dafür zu 50 Prozent die Verantwortung trägt, was „arschknapp“ ist und wo der Vorstand nichts geschenkt, aber fair behandelt werden will.
KURIER:Sie haben 2024 zum Qualitätsjahr ausgerufen. Wie definieren Sie Qualität?
Andreas Matthä: Es gibt die Maslow’sche Bedürfnispyramide auch im Eisenbahnwesen. Die Basis ist Sicherheit, die man sich jeden Tag hart erarbeiten muss, auch wenn sie selbstverständlich wirkt. Die weiteren Stufen sind Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Service. Das Lächeln des Zugbegleiters steht an der Spitze.
Wir sind forsch gewesen in der Planung, weil wir eine enorme Nachfrage sehen. 2023 haben wir einen Jahrhundertrekord mit mehr als 480 Millionen Fahrgästen mit Bus und Bahn eingefahren. Gegenüber dem bisherigen Rekordjahr 2019 ist das ein Plus von über 20 % im Fernverkehr und das trotz des verstärkten Homeoffice. Grüße an die Experten, die gesagt haben, wir brauchen nach Corona drei Jahre, um wieder das Niveau zu erreichen. Wir haben drei Wochen gebraucht. Aber ja: 2023 waren wir nicht vom Glück verfolgt.
Dem Plus stehen Beschwerden en masse gegenüber, die worauf zurückzuführen sind?
2023 sind 50 Prozent all unserer Verspätungen auf Nachbarbahnen und Unwetter zurückzuführen. Wir hatten im Vorjahr knapp fünf Mal so viele Zugausfälle wegen Extremwetterereignissen wie noch vor zehn Jahren. Das Ausmaß hat auch mich sehr überrascht.
Rahmenplan 2024-2029 sieht 21,1 Mrd. Euro für Infrastruktur vor.
2023 transportierten die ÖBB 480 Millionen Fahrgäste. Um der hohen Nachfrage zu genügen, wurden 330 neue Züge bestellt.
Pünktlichkeit: Im Vorjahr lag die Pünktlichkeit bei 95 %. 2022 lag der Wert bei 95,5 %, 2024 soll er bei über 96 % liegen.
Konzernweit beschäftigen die ÖBB 42.600 Mitarbeiter und bilden 2.000 Lehrlinge aus.
Andreas Matthä: Der Villacher (61) ist seit 1982 bei den ÖBB, seit 2016 Vorstandsvorsitzender der ÖBB Holding AG.
Lässt sich die Überraschung konkret beziffern?
2016 hatten wir 756 Extremwettereignisse, 2023 waren es 3.633. Wir unterschätzen alle noch ein Stück weit, dass sich unsere Umwelt verändert hat. Bei uns führt das dann zu Streckensperren und -einschränkungen.
Für die anderen 50 Prozent tragen aber Sie die Verantwortung.
Durch die hohe Netzbelastung hat jede Weichenstörung bis hin zum beschädigten Zug eine deutlich größere Auswirkung auf die Pünktlichkeit als früher. Und zu den Zugausfällen: Wir haben Wachstumsschmerzen, weil wir massiv unter Lieferverzögerungen leiden, noch immer auf die 2018 bestellten Railjets warten. So kommt es, dass alte und wartungsintensive Züge öfter im Einsatz sind und dadurch reparaturanfälliger werden. Das führt dann wiederum zu Engpässen.
2023 lag die Pünktlichkeit gesamt bei 95 Prozent. 2024 liegt der Planwert bei über 96 Prozent
Pünktlichkeit gesamt 95,0 Prozent
Nahverkehr 95,7 Prozent
Fernverkehr 80,3 Prozent
2022
Pünktlichkeit gesamt 95,5 Prozent
Nahverkehr 96,1 Prozent
Fernverkehr 81,4 Prozent
2021
Pünktlichkeit gesamt 96,7 Prozent
Nahverkehr 97,1 Prozent
Fernverkehr 87,8 Prozent
Umgekehrt: Warum verringern Sie nicht die Taktung, um pünktlich zu sein?
Das ist ein Thema, das wir diskutieren. Der Fluch ist, dass wir eine Vorlaufzeit von zwei Jahren haben. Wir planen also jetzt die Taktung 2026.
Also kann es 2026 weniger Verbindungen geben, die dafür pünktlich?
Ich baue darauf, dass wir mehr Züge haben! Wir wollen unsere Kunden zufriedenstellen.
Welcher Mangel wiegt schwerer: Mitarbeiter oder Material?
Unser Problem ist das Material. Mitarbeiter bekommen wir ausreichend, weil wir als guter Arbeitgeber gelten. Es gibt aber einige Berufe, wie den Verschieber, da ist es, wie der Bundespräsident einmal in anderem Zusammenhang formulierte, arschknapp. Bei Lokführern geht es uns etwas besser.
Diese Baustelle wird sportlich und unsere Kunden sicher massiv fordern, weil in Floridsdorf und Meidling große Umsteigeknoten sind. Wir bringen längere Züge mit mehr Kapazität durch Doppelstock aufs Gleis und ein neues Zugsicherungssystem, das im Idealfall einen 2,5-Minutentakt ermöglicht. Die Züge fahren nur mehr im Bremswegabstand hintereinander und nicht mehr auf Signal.
Kritik geerntet haben die ÖBB jüngst für die dynamischen Preise beim Nightjet. Ein Fehler?
Das dynamische Preissystem, das wir zur Kapazitätsauslastung nutzen wie Flieger oder Hotels, das gibt es schon lange. Bis jetzt hat es aber keine Emotion hervorgerufen. Die Preise sind gestiegen, weil die Nachfrage nach Nightjets zum Fahrplanwechsel derart groß war. Jetzt haben sich die Systeme wieder kalibriert. Die neue Mini-Cabin gibt es ab 49,90 Euro nach Hamburg.
Etwa 80 Prozent der Strecken sind vom Staat oder Bund bestellt. Ist es möglich, dass wir irgendwann gratis mit dem Zug fahren werden, statt uns darüber zu unterhalten, wie viel das Ticket kostet?
Gratis heißt, dass es nichts wert ist. Und: Der Preis hat immer auch einen Lenkungseffekt. Verkehr und Transport darf in Österreich seit jeher nicht viel kosten, das kann man auch einmal hinterfragen. Und dann muss man zwischen Nah-, Fern- und eigenwirtschaftlichen Verkehren differenzieren. Im Fernverkehr gibt es den Wettbewerb mit Straßenverkehr und Luftfahrt. In dem Bereich fordert uns übrigens das Klimaticket, denn wir wissen nicht mehr, wann unsere Kunden fahren.
Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir in Österreich ein offenes System. Das wird von vielen Fahrgästen geschätzt, weil es Flexibilität bringt. Aber es macht die Planung natürlich schwieriger. Einige Kunden reservieren auch mehrfach. Es erstaunt mich in der Diskussion aber immer, dass sich niemand Freitagnachmittag über den Stau auf der Straße wundert, sehr wohl aber über volle Züge.
Die Deutsche Bahn streikt allenthalben. Sie sind diesbezüglich fein raus, weil die ÖBB ihre KV-Verhandlungen 2022 für zwei Jahre abgeschlossen haben. Wünschen Sie sich das für 2024 wieder?
Heuer hat es uns eindeutig geholfen! Die KV-Verhandlungen sind Angelegenheit der Sozialpartner, aber natürlich präferiere ich Modelle, die der Planung dienen: Je berechenbarer umso besser.
Blieben Sie auch von der Zinsentwicklung bei Bauvorhaben verschont?
Wir sind überwiegend fixverzinst finanziert und leiden nicht so stark unter den Zinssprüngen. Was die Steigerungen bei den Baupreisindizes betrifft, so bringen diese natürlich auch unsere Projektkosten ein stückweit unter Druck.
Die Zahlen im Güterverkehr sind weniger erfreulich. Das EU-Ziel bei Modal Split liegt bei 30 Prozent, wir liegen darunter. Woran liegt das?
Container wählen nicht! Der europäische Durchschnitt liegt bei 17, wir in Österreich bei 28 Prozent. Wir haben es mit einer schweren Wettbewerbsverzerrung zwischen Lkw und Schiene zu tun. Ein Transit-Lkw wird zu 30 Prozent vom Steuerzahler mitfinanziert – wir nicht. Ich will nichts geschenkt, aber ich hätte es gerne gleich fair. Jeder soll die Kosten tragen, die er verursacht. Und, was einmal gesagt werden muss: Früher war ein Lkw-Fahrer der Cowboy der Landstraße, heute ist er der Sklave der Autobahn. Es geht hier um Sozialdumping.
Sie könnten als Präsident der Gemeinschaft der Europäischen Bahnen das Wort ergreifen.
Wir haben auf der Bahn kein Europa. Wir sind noch immer so nationalistisch in Europa, dass jede Grenze aus Sicht der Eisenbahn eine echte Hürde ist. Und diese Hürden müssen wir abbauen.
Man einigt sich in der EU nicht einmal darauf, in welcher Sprache man miteinander kommuniziert.
Die Einführung des europäischen Zugsicherungssystems ETCS wird helfen, da es bei allen neuen Strecken eingebaut werden muss. Unser Ziel muss es sein, irgendwann mit einem Zug so quer durch Europa fahren zu können wie ein Pkw oder Lkw.
An Österreich scheitert es anscheinend nicht: Der Rahmenplan sieht 21,1 Milliarden Euro bis 2029 vor.
Wir werden für diesen Rahmenplan und das Bekenntnis der Politik zur Investition in die Infrastruktur europaweit beneidet. Vor 20 Jahren hatten wir eine ähnliche Situation wie sie die Deutsche Bahn jetzt ausbaden muss, doch in der heimischen Politik herrscht bezüglich der Bedeutung der Infrastruktur Konsens. Die ÖBB stehen deshalb im europäischen Vergleich so gut da.
Sie brechen gerade eine Lanze für alle Politiker?
Ja, und zwar über alle Farben hinweg. Ich hatte schon die unterschiedlichsten Verkehrsminister und merke bei allen Parteien ein klares Commitment zur Schiene.
Ihr jetziges Amt ist ein sehr politisches. Ist ein Wechsel in die Politik für Sie denkbar?
Undenkbar! Meine Partei ist rot-weiß-rot. Mir ist wichtig, die ÖBB gut aufzustellen und zu übergeben, denn die ÖBB in fünf Jahren wird eine andere sein als vor fünf Jahren, allein weil 40 Prozent der Mitarbeiter in Pension gehen.
Kommentare