Nehammer: "Gleichgewicht des Schreckens funktioniert nicht mehr"
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat sich für ein neues europäisches Investitionspaket, das die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine abfedern soll, offen gezeigt. "In einer Krise ist es immer notwendig, gegen die Krise zu investieren", sagte Nehammer vor dem EU-Sondergipfel im französischen Versailles am Donnerstag. "Investitionen sind jetzt notwendig und wichtig, genauso auch, dass man sie gemeinschaftlich durchführt."
Keiner habe mit einem Krieg auf europäischen Boden mit konventionellen Waffen gerechnet, so Nehammer. "Das Gleichgewicht des Schreckens von atomaren Mächten funktioniert offensichtlich nicht mehr", fügte er hinzu. Österreich müsse seine Neutralität verteidigen, deshalb werde man das Verteidigungsbudget erhöhen.
Die Europäische Union müsse auch der Ukraine nach dem Krieg beim Wiederaufbau helfen, sagte Nehammer. "Wir als Europäische Union stehen zusammen, jetzt in der Krise innerhalb der Union, und vor allem an der Seite der Ukraine."
Zurückhaltung bei Verteilungsquoten
Zu Ideen der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, künftig eine Verteilungsquote für bestimmte Flüchtlinge einzuführen, zeigte sich der Bundeskanzler zurückhaltend. "Wir sind jetzt gerade dabei, ukrainische Flüchtlinge aus Moldawien nach Österreich zu bringen, weil Moldawien als armes Land besonders belastet ist. Ich bin sehr dankbar den Österreicherinnen und Österreichern. Sie haben 25.000 Privatquartiere angeboten, um den Menschen zu helfen." Außerdem sei er dem ORF für die Aktion "Nachbar in Not" dankbar.
Zur Energieversorgung gebe es eine kurz-, eine mittel- und eine langfristige Perspektive für Österreich, so Nehammer. Kurzfristig seien die Energiespeicher für den nächsten Winter voll zu kriegen, mittelfristig versuche Österreich von der Abhängigkeit von russischem Gas wegzukommen, "das ist ein langwieriger Prozess". Und der langfristige Prozess sei die Unabhängigkeit Österreichs von fossilen Energieträgern.
Vorbereitet auf Enteignungen
Zu Meldungen, wonach Russland ausländische Unternehmen enteignen wolle, sagte der Bundeskanzler: "Wir haben uns darauf vorbereitet." Von der EU-Kommission gebe es das Angebot, besonders harte Folgen der Sanktionen zu kompensieren. Grundlage der Sanktionsentscheidung sei es gewesen, der Ukraine zu helfen. "Wird es Schmerzen bedeuten für die europäische Wirtschaft? Ja, aber das ist nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die die Menschen in der Ukraine gerade erleiden." Wichtig sei der Schutz der eigenen Interessen der Menschen, die in Österreich leben, aber Österreich sei auch solidarisch gegenüber den Nachbarn.
Nehammer nannte das Scheitern der ersten Gespräche zwischen dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und seinem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba "bitter". Andererseits zeige es sich, dass es nach wie vor Gesprächsbereitschaft gebe. "Ich war froh, dass sich die beiden getroffen haben. Wir müssen jetzt alles tun, auch heute Signale senden, dass der Dialog nach wie vor wichtig ist." Die EU müsse auch mit Russland in einem Gesprächskontakt bleiben.
Zurückhaltend zu Ukraine-EU-Beitritt
Der Kanzler zeigte sich erneut zurückhaltend zum ukrainischen EU-Beitrittsgesuch. Ein solches Beitrittsgesuch sei "extrem langwierig und sehr komplex". Die Ukraine brauche jetzt Solidarität sowie rasche und unbürokratische Hilfe. Es gebe Beitrittsgesuche auch von Georgien und Moldawien, ebenso seien Staaten am Westbalkan massiv an einem Beitritt interessiert.
Die 27 EU-Staats- und Regierungschef treffen am Donnerstag und Freitag im Schloss Versailles zusammen um primär den russischen Angriff auf die Ukraine und seine Folgen zu beraten. Auch der ukrainische EU-Beitrittsantrag steht zur Debatte.
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