Nach Burgervideo gibt sich Nehammer als "Lernender"
Der Kanzler mag Bühnen, Gasthäuser sowieso. Insofern ist der Termin, den Karl Nehammer an diesem hochsommerlichen Oktobertag absolviert, wohl einer der angenehmeren.
Der ÖVP-Chef hat Hilfsorganisationen in ein Beisl in einer Wiener Kleingartenanlage geladen. Er will über Armut und seine Haltung dazu reden. Auch über die Leistungen der Regierung und wie das so war mit dem Handy-Video, für das er auf den sozialen Medien geprügelt wurde.
In Rage
Vermutlich muss man die Sache mit dem Video noch einmal zusammenfassen, die Erinnerung verblasst ja schnell.
Vor zwei Wochen ging ein Clip viral, der Nehammer zeigt, wie er sich vor Parteifreunden in Emotion, man könnte auch sagen: in Rage, redet. In dem viele Wochen alten Mitschnitt hatte sich der Kanzler missverständlich bis kritisch über die Armutsdebatte geäußert. Bei einem Burger-Preis von 1,40 Euro könne man schwerlich behaupten, Kinder müssten hierzulande hungern, lautete eine der kolportierten Thesen. Und weil ihn selbst Wohlgesonnene hier sehr schnell missverstanden haben, ist man heute hier im Gastraum eines Wirtshauses. Im hellen Scheinwerferlicht, vor einem Dutzend Kameras, alles live in den sozialen Netzwerken.
Knapp 90 Minuten wird die Aussprache vor Publikum dauern, es ist eine der Schwachstellen des eher kurzfristig anberaumten Events. Denn bei eineinhalb Stunden bleibt nicht viel Zeit für den Einzelnen. Nicht bei 13 NGOs, von denen jede vier Gäste nominiert.
Eine der wichtigsten Botschaften bringt Nehammer ohnehin gleich bei seiner Begrüßung: Das erwähnte Video sei „manipuliert“, sein Ton dem „Setting“ geschuldet gewesen: „Am Fußballplatz redet man anders als beim Elternsprechtag.“
Ob das in der Form für alle, also selbst für Regierungschefs gilt, wird nicht im Detail diskutiert. Vielmehr zeigen die NGO-Vertreter, was sie gerne vom Regierungschef gern hätten, nämlich: Empathie, eine sensible Sprache – und zielgenaue Hilfen für Armutsbetroffene.
Karl Nehammer stellt die Situation erst gar nicht in Abrede. Natürlich gebe es nach wie vor Menschen, die durch das engmaschige Netz der Sozialhilfe fallen. Angesichts der multiplen Krisen sei es aber eine „enorme Leistung“, dass die Armut nicht deutlich gestiegen sei. Und das müsse man auch anerkennen.
Eine Vertreterin der Caritas erzählt dem Regierungschef von einem Lernhaus in Niederösterreich, wo sich die Kinder mittags auf die Jause freuen – weil es die erste Mahlzeit ist, die sie an diesem Tag bekommen werden.
Liegt das daran, dass sich ihre Eltern nicht kümmern, ihnen keine Jause besorgen?
Eher nicht, zumindest ist das nicht die Erfahrung der Sozialarbeiterin. „Ich kann Ihnen versichern, Herr Bundeskanzler, dass die Eltern mit denen wir arbeiten, ihre Verantwortung sehr ernst nehmen. Aber für eine Alleinerzieherin mit zwei oder drei Kindern ist es selbst mit zwei Jobs herausfordernd, über die Runden zu kommen.“
Die Alleinerzieherinnen: Das war vermutlich jener Vorwurf, der Nehammer am härtesten traf. Wer als Alleinerzieherin zu wenig verdient, darf halt nicht in Teilzeit arbeiten. So oder so ähnlich wurde der ÖVP-Chef zitiert bzw. zusammengefasst. Nehammer wurmt das. „Mir wurde unterstellt, ich hätte Mütter dazu aufgefordert, mehr zu arbeiten.“
Alleinerzieherinnen
Tatsächlich habe er von Menschen gesprochen, die überhaupt keine Betreuungs- oder Versorgungspflichten für Kinder oder zu pflegende Angehörige haben. „Es ist einfach unvorstellbar, was Alleinerziehende leisten“, sagt der Kanzler. Und die anwesenden NGO-Vertreter nehmen ihm das ab. Vielleicht nicht alle, aber viele davon.
Kritik kommt bei dem moderierten Treffen vor Kameras durchaus – aber wohl dosiert und überlegt.
Willi Raber von der Diakonie wünscht sich, dass Nehammer nicht über, sondern mit den Betroffenen spricht. Im Kanzleramt oder in Hilfseinrichtungen vor Ort. „Deren Perspektive darf nicht verloren gehen!“
Andere sagen offen, dass sie der Ton im Video „irritiert“ hat. Ein Einwand, den Nehammer gut nehmen kann. „Sorgfalt in der Sprache ist ein wesentlicher Punkt, ich diszipliniere mich da selbst, bin ein Lernender.“ Das ist keine Entschuldigung, aber ein Schritt in diese Richtung.
Und genau so sieht es manch Anwesender. „Man muss anerkennen, dass es ein solches Angebot des Dialogs so noch nicht gegeben hat“, sagt Josef Schmoll, der für das Rote Kreuz gekommen ist. Sind alle Probleme gelöst? Mitnichten. „Aber es war ein guter erster Schritt.“
Kommentare