Einstiges Kinderdorf-Kind Santner ist neuer Aufsichtsratschef

SOS-KINDERDORF
Mitgliederversammlung brachte heute eine Neuaufstellung des Kontrollgremiums. Unterdessen hat die Staatsanwaltschaft Wien den 991-seitigen Geheimbericht zu Missständen erhalten.

SOS-Kinderdorf Österreich hat heute seinen neuen Aufsichtsrat gewählt. Der bestehende löst sich infolge des Missbrauchsskandals, der Mitte September aufgebrochen ist, auf. In der Mitgliederversammlung wurde nun Industriemanager Friedrich Santner als neuer Vorsitzender und Sprecher des sechsköpfigen Gremiums gewählt.

Friedrich Santner

Friedrich Santner

Santner sei langjähriger Geschäftsführer und Aufsichtsorgan in österreichischen und internationalen Unternehmen und bringe "umfassende Erfahrung in Corporate Governance, Risikomanagement und der Kontrolle großer Organisationen ein", heißt es in einer Aussendung von SOS-Kinderdorf am Donnerstagabend. Er habe Psychologie und Pädagogik studiert und würde damit "fundierte Kenntnisse über Entwicklungs- und Beziehungsdynamiken mit seiner Managementerfahrung verbinden". 

Seine Kindheit und Jugend hat Santner (65) in SOS-Kinderdörfern verbracht und - somit bringe er auch die Perspektive eines ehemals Betreuten in die Aufsicht ein.

"Ehrliche Auseinandersetzung"

Der neue Aufsichtsrat verstehe sich als "unabhängiges, aktives Kontrollgremium mit klarer Verantwortung für Aufsicht, Kinderschutz, Governance und Compliance", betont Aufsichtsratschef Santner. "Wir nehmen die institutionelle Verantwortung ernst. Unsere Aufgabe ist es, die lückenlose Aufarbeitung der Vergangenheit zu sichern, die notwendigen Reformen konsequent zu begleiten und damit die Grundlage für neues Vertrauen in SOS-Kinderdorf zu schaffen."

Das sechsköpfige Gremium werde eng mit der unabhängigen Reformkommission unter dem Vorsitz von Irmgard Griss zusammenarbeiten - der Auftrag laute auch, deren Empfehlungen für Reformen strukturell zu verankern. 

Geschäftsführerin Annemarie Schlack erklärt in der Aussendung, dass eine "ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit" zentraler Teil des Neustarts sei. "Die im Aufsichtsrat vertretenen Persönlichkeiten stehen mit ihrer fachlichen Autorität dafür, dass Aufsicht und Kontrolle künftig klar, unabhängig und konsequent wahrgenommen werden.“

Die vier gewählten Mitglieder an der Seite von Santner: 

  • Brigitte Lueger-Schuster ist klinische Psychologin und Professorin für Psychotraumatologie an der Universität Wien mit Expertise für die Folgen von Gewalt, Missbrauch und institutionellem Unrecht sowie Kinderschutz, Traumafolgen und Opferschutz.
     
  • Norbert Gerstberger war Jugendrichter und Strafrichter in Wien und ist heute u. a. in der Heimopferrentenkommission tätig. Er stehe laut Aussendung für eine "rechtsstaatlich fundierte Perspektive auf Kinderrechte, Opferrechte und den Umgang mit institutioneller Gewalt". 
     
  • Maria Wienerroither ist in der Kinder- und Jugendhilfe tätig, u. a. als Bereichsleiterin in einer großen Einrichtung der stationären Jugendhilfe. Zudem ist sie Vorstandsmitglied von FICE Austria. Damit stärke sie den Aufsichtsrat mit internationaler Vernetzung und vertiefter Expertise zu Qualitäts- und Kinderschutzstandards in der Kinder- und Jugendhilfe, heißt es in der Aussendung. 
     
  • Martin Zernig ist Betriebswirt und Manager in einem kommunalen Energie- und Infrastrukturunternehmen und beschäftigt sich mit Business Development und Beteiligungsprozessen. Wie Friedrich Santner ist er in einem SOS-Kinderdorf aufgewachsen und Mitinitiator der Petition "Rettet das Kinderdorf".

Zusätzlich wird eine Vertreterin oder ein Vertreter des SOS-Kinderdorf-Betriebsrats kooptiert, um die Perspektive der Mitarbeitenden systematisch einzubinden, wie in der Aussendung erklärt wird.

Streit um Transparenz

Zwischen dem früheren Aufsichtsrat und der jetzigen Geschäftsführung gab es grobe Unstimmigkeiten - so war dem Kontrollgremium vorgeworfen worden, an echter Aufklärung der Vorwürfe nicht interessiert zu sein. Und es stand im Raum, dass einzelnen Mitgliedern zumindest einige Vorfälle schon bekannt waren - diese aber unter der Decke gehalten worden seien. So gab es, wie nun bekannt ist, bereits Untersuchungsberichte zu Missständen in Moosburg und – wie zuerst der KURIER berichtete – dem Gründungsstandort Imst, die nicht den Behörden gemeldet wurden.

Im Raum stehen auch die Missbrauchsvorwürfe gegen einen Großspender und die Tatsache, dass der langjährige Präsident Helmut Kutin nicht nur davon gewusst, sondern dem über 80-jährigen Mann, der mittlerweile verstorben ist, auch noch Zugang zu den Kindern verschafft haben soll. Hinzu kommen Entschädigungszahlungen für Missbrauchsopfer von Gründer Hermann Gmeiner, die geheim gehalten wurden. 

Die Neuwahl des Aufsichtsrats gehört zum Reformprozess, zu dem sich die Organisation verpflichtet hat. In der Geschäftsführung gab es schon zuvor einen Wechsel: Carolin Porcham übernahm die Agenden von Christian Moser, der seit Bekanntwerden der ersten Vorwürfe dienstfrei gestellt war. 

Staatsanwaltschaft Wien prüft 991-Seiten-Bericht

Unterdessen hat der Aufsichtsrat des Dachverbands, SOS-Kinderdorf International, den 991-seitigen Bericht der Independent Special Commission (ISC), der mehr als zwei Jahre lang unter Verschluss war, der Staatsanwaltschaft Wien übermittelt. Eine Sprecherin bestätigt auf KURIER-Anfrage den Eingang. Die rund 1.000 Seiten werden nun geprüft. 

Zuvor gab es nur eine 262-seitigen Bericht Kurzfassung, die zwar seit Mai 2023 zwar online abrufbar war, offenbar aber niemandem aufgefallen ist. In dem Bericht werden schwere Vorwürfe und Verdachtsmomente zu Missbrauch, Geldwäsche und Menschenhandel genannt - allerdings in anonymisierter Form. In der Langfassung sind alle Namen und mehr Details. 

Nachdem der KURIER über die Existenz der Langfassung berichtete, beriet der Aufsichtsrat des Dachverbands über eine zumindest teilweise Weitergabe an die Strafverfolgungsbehörden - und entschied gestern, Mittwoch, dass die Vollversion übermittelt wird. 

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