Udo Jesionek über SOS-Kinderdörfer: "Es gab eine Zeit, da waren Täter sakrosankt"
Udo Jesionek
Er war Mitglied der Klasnic-Kommission, Präsident des Jugendgerichtshofs und ist Ehrenpräsident der Opferschutzorganisation "Weißer Ring“: Udo Jesionek spricht im Innenpolitik-Podcast „Milchbar“ über gefallene Tabus, moralische Urteile und freigesprochene Schuldige.
KURIER: Ist die Menschheit grausamer geworden?
Udo Jesionek: Ich glaube nicht, nur sensibler in der Reaktion darauf. In meiner Kindheit war es üblich, dass man seine Ohrfeigen kriegt, das hat niemand ernst genommen. Hinzu kommt die sexuelle Komponente, die damals totgeschwiegen wurde. Viele Kinder, die in Heimen oder Einrichtungen der Kirche waren, haben nichts gesagt, auch weil ihnen niemand geglaubt hätte. Täter waren sakrosankt, haben machen können, was sie wollen. Das ist heute anders. Endlich wird darüber geredet. Die Tabus sind gefallen.
Udo Jesionek Geboren 1937 in Berlin, absolvierte er zunächst eine Werkzeugmacherlehre und studierte später in Wien Staats- und Rechtswissenschaften. 1965 wurde er zum Richter ernannt und 1982 Präsident des Jugendgerichtshofes. Seit 2002 ist Jesionek im Ruhestand.
Beim Weißen Ring ist er seit der Gründung 1978 ehrenamtlich tätig. Von 1991 bis 2024 war er Präsident und ist jetzt
Ehrenpräsident.
Weißer Ring Die größte gesetzlich anerkannte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer in Österreich bietet kostenlose, vertrauliche Beratung und Begleitung.
Opfer-Notruf: Rund um die Uhr erreichbar unter 0800 112 112
Ziehen solche Einrichtungen Sadisten und Pädosexuelle an oder werden die Menschen dort so?
Ich glaube schon, dass Leute mit so einer Neigung auch Berufe anstreben, wo sie diese ausleben können. Es gab damals keine richtige Ausbildung, jetzt müssen Erzieher zumindest therapeutisch geschult sein. Ich habe mir in den 1980er-Jahren gedacht, dass es damit aufhört, aber es gibt immer noch Fälle. In dem Moment, wo wir miteinander reden, passiert wahrscheinlich wieder etwas.
Ist Gewalt auch ein Ausdruck einer Überforderung?
Es ist wahrscheinlich nicht sehr angenehm, permanent mit verhaltensauffälligen Kindern zu tun zu haben. Ich halte deshalb Supervision für ganz wichtig, damit die Mitarbeiter mit jemandem sprechen können über ihre Probleme und Nöte. Ein Supervisor kann aber natürlich keinen Pädophilen umdrehen.
Nun wird der vollständige Bericht an die Staatsanwaltschaft Innsbruck übergeben.
Welche Therapien gibt es?
Ich weiß nur, dass man lange Zeit mit medizinischen Mitteln versucht hat, den Drang zu reduzieren. In Deutschland konnten sich Täter freiwillig einer Kastration unterziehen und sich dadurch die geschlossene Anstalt ersparen. Ich denke, für jene, die willig sind, die einsehen, dass sie ein Problem haben und es loswerden wollen, kann eine Psychotherapie gut sein, aber wie gut die greift, weiß ich nicht.
Warum melden sich manche Opfer erst so spät?
Viele verdrängen es total. Die gehen dauernd zum Arzt, der findet nichts, und plötzlich kommen sie drauf, dass ein Missbrauch, den sie als Kind erlitten haben, der Auslöser ist.
Das ist umstritten. Es gibt die Kritik, dass in Therapien auch „falsche Erinnerungen“ angeregt oder sogar eingepflanzt werden können. Nicht böswillig – aber manchen, die an einer Störung leiden, passt so eine Geschichte ins Konzept.
Die Gefahr besteht immer. Bei der Beurteilung in den Opferschutzkommissionen glauben wir im Zweifel den Betroffenen. Aber als Richter habe ich sicher schon viele Schuldige freigesprochen, weil ich es nicht über mich gebracht habe, sie zu verurteilen, wenn ich mir nicht ganz sicher war. Deshalb bin ich froh, dass es jetzt Gewaltambulanzen gibt, wo Opfer direkt nach der Tat eine Untersuchung machen können. Damit hat man den Beweis.
Mord verjährt nicht, Missbrauch schon. Sollte man das ändern?
Als Richter finde ich schon, dass eine Verjährung notwendig ist. Wenn eine gewisse Zeit vergangen ist, wird es wahnsinnig schwer, einen Beweis zu führen. Bei den Kommissionen gibt es keine Verjährung – selbst wenn es nur ein leichter Missbrauch war, bekommen Opfer eine Therapie oder einen Geldbetrag.
Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, wirkt manchmal ganz schön unfair.
Wie bemisst man die Beträge?
Es gibt die Judikatur des OGH, die nach Schmerzperioden geht. Wenn jemand Zeuge eines Verkehrsunfalls wird, bekommt er Geld für den „Schockschaden“. Eine posttraumatische Belastungsstörung wäre ein längerfristiger psychischer Schaden.
Wie viel ist eine verkorkste Kindheit im Heim „wert“, unter der ein Mensch sein Leben lang leidet?
Wichtig ist, dass man eine Psychotherapie bezahlen kann, und dann gibt es noch ein bisschen Geld, mit dem man sich eine Freude machen kann. Aber ich habe mit vielen Opfern geredet, die sagen: „Es geht mir gar nicht ums Geld. Es geht mir darum, dass mir endlich geglaubt wird.“
Eine Kommission um Irmgard Griss untersucht jetzt Missbrauchsfälle in SOS-Kinderdörfern, und eine frühere Kommission von Waltraud Klasnic steht in der Kritik, weil sie damals nicht genauer bei Präsident Helmut Kutin nachgefragt hat.
Vielleicht hat man es nicht wahrhaben wollen. Christian Broda (ehemaliger Justizminister; Anm.) hat einmal gesagt: Jeder Mensch ist eine Mischung aus Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Wir müssen das ganze Leben damit kämpfen, dass wir diese bösen Seiten zurückhalten. Ich traue jedem einen Mord zu.
Sie haben nicht nur viel mit Opfern, sondern auch mit Tätern gesprochen. Gibt es einen Fall, den Sie besonders in Erinnerung behalten?
Als Richter habe ich einmal einen Räuber zu zwölf Jahren Haft verurteilt, der schrieb mir plötzlich einen Brief aus der Justizanstalt Stein geschrieben und wollte mich nach seiner Entlassung besuchen. Ich habe veranlasst, dass er eine Haftentlassungshilfe bekommt, und dann kam er wirklich zu mir. Ich habe ihn gefragt, warum er ausgerechnet mir schreibt – dem Richter, der ihn verurteilt hat. Seine Antwort: „Sie waren der Erste, der mich als Mensch behandelt hat.“ Das hat mir irrsinnig viel gegeben, weil ich gesehen habe: Ich verurteile als Richter nach den Gesetzen, aber nicht moralisch und ohne jemanden herabzusetzen.
Stichwort Moral: Im Fall Anna konnten viele die Freisprüche nicht nachvollziehen, sogar eine Landeshauptfrau hat sich zu Wort gemeldet.
Das Urteil war richtig und hat auch gehalten, es wurde ja nicht einmal eine Berufung gemacht. Ich finde es ungut, wenn sich Politiker über Urteile äußern, ohne näher Bescheid zu wissen.
Erklären Sie uns kurz: Was macht der „Weiße Ring“?
Wir sind eine europaweite Organisation, die generell zuständig ist für Opfer jeder Art von strafrechtlichen Handlungen – vom Taschendiebstahl bis zum Mord. Diese bekommen psychologische Hilfe, Beratung, einen kostenlosen Anwalt und Prozessbegleitung. Unser großer Kummer ist: Die Betroffenen kriegen zwar von der Polizei einen Zettel, auf dem steht, sie können sich an den „Weißen Ring“ wenden, aber das tun viel zu wenige. Wir bekommen zum Beispiel von der Stadt Wien Gelder für bedürftige Senioren, aber der Topf wird nicht ausgeschöpft.
Wie ist der „Weiße Ring“ budgetär aufgestellt?
Wir bekommen öffentliche Gelder, die Prozessbegleitung bezahlt beispielsweise der Staat. Und sonst bekommen wir, wie jede NGO, Spenden. Gerade erst haben wir eine schöne Erbschaft gekriegt.
Haben Sie zum Schluss einen Tipp: Wie verhält man sich am besten, wenn man aus der Nebenwohnung Schreie hört oder sieht, wie jemand auf der Straße angegriffen wird?
Wenn man Zeuge einer Tat wird, ist klar: Fast jeder hat heute ein Handy und kann die Polizei anrufen. Mit den Nachbarn ist es heikel. Was, wenn sich herausstellt, es war gar nichts? Dann ist man der böse Nachbar, der angezeigt hat, das ist auch ein Krampf. Courage verlangt, dass man selbst beurteilt, wann es notwendig ist, etwas zu tun. Wenn ein Kind einmal plärrt, na gut. Aber wenn es immer und immer wieder plärrt oder wenn ich merke, die Nachbarin hat dauernd ein blaues Auge, weil sie „immer gegen die Heizung stürzt“, dann zeige ich das an. Das kann man auch anonym machen.
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