Neue Opferschutzanwältin List: „Im Zweifel für das Opfer“
Vor 15 Jahren erschütterte ein Missbrauchsskandal die katholische Kirche – unter anderem im Stiftsgymnasium Kremsmünster.Eingesetzt wurde damals eine „unabhängige Opferschutzanwaltschaft“ mit der Vorsitzenden Waltraud Klasnic. Zu Jahresbeginn 2026 übernimmt Caroline List, Präsidentin des Grazer Straflandesgerichts, die schon vorher Teil der „Klasnic-Kommission“ war.
KURIER: Haben Sie angesichts des aktuellen Missbrauchsskandals bei SOS-Kinderdorf ein Déjà-vu?
Caroline List: Gemein haben diese Fälle, dass ein Weltbild und das Vertrauen in wichtige Instanzen zerstört wird. Bei der Kirche gab es die besondere Implikation, dass Geistliche die Autoritätspersonen waren. Aber im Prinzip stehen alle Organisationen, die in den vergangenen 70 Jahren mit Kindern gearbeitet haben, vor denselben Problemen.
Ziehen solche Organisationen Sadisten und Pädosexuelle an – oder werden Menschen dort so?
In jedem geschlossenen System kann Missbrauch passieren, weil schwächere Menschen dort den Stärkeren ausgeliefert sind – auch die Familie ist so ein geschlossenes System. Bei größeren Institutionen kommt hinzu, dass der Einzelne wenig wahrgenommen wird. Bei SOS-Kinderdorf setzt man heute eher auf kleinere Wohngruppen. Auch die Einstellung zu Kindern hat sich verändert. Sie waren früher, in der Nachkriegszeit, gesellschaftlich weniger wert.
Bagatellisiert man Schläge und Demütigung, indem man sagt „das war damals halt so“?
Die Ohrfeige als Erziehungsmethode war früher erlaubt, in der Kommission haben wir das aber nie als Entschuldigungsgrund gesehen. Ausschlaggebend ist das Maß an Gewalt und auch die psychischen Schäden, die einem Menschen dabei zugefügt werden. Aber ich sage trotzdem: Man muss diese Dinge im historischen Kontext sehen.
Welche „Erziehungsmethoden“ sind Ihnen in Ihrer Tätigkeit begegnet?
In den Heimen wurden Geschwister systematisch getrennt; ebenso, wenn man gemerkt hat, dass sich zwei Kinder angefreundet haben. Die Erzieher waren der Ansicht: Die sollen nicht zu sehr beisammenpicken. Dann gab es natürlich das Scheitelknien, das am Gang Stehen mit Büchern auf den Armen, oder dass man Kinder im Dunkeln einsperrt.
Eine Kinderdorfmutter hat Kindern das Trinken verboten, sogar Wasserhähne wurden abmontiert.
Früher war Flüssigkeitsentzug Usus, wenn Kinder im Bett eingenässt haben. Man wusste lange Zeit nicht, dass das etwas mit Trauma, Angst oder dem Alleinsein zu tun hat, also psychische Ursachen hat. Man hat die Kinder beschämt und bestraft – und ihnen als „Lösung des Problems“ ab Mittag nichts mehr zu trinken gegeben. Manche haben heimlich aus den Toiletten getrunken, weil sie den Durst nicht mehr ausgehalten haben.
Sie sind selbst Mutter. Wie geht es Ihnen, wenn Sie so etwas hören?
Meine Kinder waren zwei und vier Jahre alt, als ich im Jahr 2000 am Straflandesgericht die Leitung der Abteilung für sexuellen Missbrauch übernommen habe. Als Richterin lernt man, sich abzugrenzen, bei manchen Fällen war das ganz, ganz schwierig. Man fühlt viel stärker mit dem Kind mit, wenn man selber welche hat.
Wie begegnet man einem Opfer?
Als Richterin darf ich kein Mitgefühl haben, es geht um Zeugen, Beweise – und im Zweifel gilt es, für den Angeklagten zu entscheiden. In der Opferkommission ist es umgekehrt: im Zweifel für das Opfer. Wenn wir eine Erzählung für glaubhaft erachten, dann erhält der Betroffene eine Hilfeleistung.
Die SOS-Geschäftsführung entschuldigt sich immer wieder und sagt: „Wir glauben den Opfern.“ Was steckt dahinter? Man vermittelt Opfern damit ein Gefühl von Sicherheit, das sie nicht kennen. Wir hatten Fälle von Kindern, die ihren Eltern zu Hause gesagt haben: Der Pater betatscht mich. Und die Eltern haben ihnen eine Watsche gegeben und gesagt: „Du lügst, so etwas macht ein Geistlicher nicht.“
„Missbrauch“ wird auch in den Medien als Überbegriff verwendet. Müssen wir präziser sein?
Über die Begriffe gibt es seit Langem einen Expertenstreit. Ich komme aus der Justiz und tue mir leichter: Die passenden Begriffe stehen im Gesetz. Bei psychischem Missbrauch ist es schon schwieriger. Wie benennt man es, wenn jemand unterdrückt, beschämt, schlecht behandelt wird?
Ein Einwand lautet, dass Opfer retraumatisiert werden, wenn sie in den Medien lesen müssen, was genau ihnen angetan wurde.
Retraumatisierung ist bei Aussagen vor Gericht ein großes Thema. In den Medien sehe ich das anders. Die Berichterstattung kann auch eine Genugtuung sein – im Sinne von: „Endlich spricht jemand drüber!“ Es kann ein gesellschaftlicher Reinigungsprozess sein. Meistens geht es leider nur darum, sofort einen Schuldigen zu finden, anstatt die Behandlung von Kindern systemisch zu hinterfragen.
Für Erschütterung hat aktuell der Fall eines dreijährigen Buben in Tirol gesorgt, der von seinen Eltern zu Tode gefoltert wurde. Welche systemische Frage stellt sich da?
Hier stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der Intervention in innerfamiliäre Abläufe durch externe Personen und Institutionen, seien es Nachbarn, Freunde, Schule oder Jugendwohlfahrt. Aber auch eine solidarisch denkende und handelnde Gesellschaft kann nicht alle Missstände – hier Verbrechen – verhindern.
Sie waren 2021 in einer Kommission, die Missstände bei SOS-Kinderdorf untersucht hat. Jetzt wurden Fälle publik, die Sie damals nicht auf dem Radar hatten. Dazu gehört, dass Gründer Hermann Gmeiner Buben missbraucht und Ex-Präsident Helmut Kutin einen pädosexuellen Großspender hofiert haben soll. Das ist erschütternd. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wir hatten eine internationale Agenda, es ging nicht um österreichische Kinderdörfer.
Für die Causa um den Großspender in Nepal waren Sie zuständig. Hat Kommissionschefin Klasnic Kutins Rolle zu wenig hinterfragt?
Das möchte ich nicht kommentieren. Wir haben den Sachverhalt damals aufgearbeitet, Verbesserungsvorschläge präsentiert und darauf vertraut, dass diese befolgt werden.
Sie sind Strafrechtlerin: Hätte Kutin (der 2024 starb; Anm.) damals als Beitragstäter bestraft werden können?
Bei jedem, der im Umfeld des Großspenders in Erscheinung getreten ist, wäre eine komplexe juristische Betrachtung nötig.
Für wie glaubwürdig halten Sie den jetzigen Versuch der Organisation, Tabula rasa zu machen?
Ich glaube, dass die Offenbarung von Sachverhalten und die öffentliche Diskussion darüber dazu beiträgt. Manchmal braucht es offenbar einen massiven Skandal, damit ein Wandel in Gang gesetzt wird.
So wie damals bei der katholischen Kirche. Wie ist diese aktuell beim Thema Opferschutz aufgestellt?
Das ist länderweise sehr unterschiedlich. In Italien sind die Menschen ganz anders verhaftet mit der Kirche als wir, die Diskussion findet dort schlicht nicht statt. In Deutschland arbeitet man die Missbrauchsfälle in jeder Diözese einzeln auf. In Österreich haben sich die Orden und die Amtskirche auf eine gemeinsame Vorgehensweise geeinigt, eine weise Entscheidung.
Welche Akzente wollen Sie als neue Opferschutzanwältin setzen?
Die neue Kommission wird die Verfahrensordnung überarbeiten, um Abläufe zu verbessern. Ich möchte weiter daran arbeiten, innerhalb der Kirche das Bewusstsein für Sexualität und auch den Umgang mit Verstößen gegen Normen zu verbessern. Wir müssen so offen wie möglich mit diesen Themen umgehen, es ist ein Lernprozess.
Was meinen Sie konkret?
Junge Männer werden Priester, geloben Enthaltsamkeit – dann müssen sie aber auch gut ausgebildet und begleitet werden. Ein Ansatz wäre, dass man den Zölibat freistellt. Dafür gibt es schon in vielen christlichen Kirchen Beispiele.
Kommentare