Ist Putin ein Kriegsverbrecher?
Der Menschenrechtsexperte und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für Folter, Manfred Nowak, über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine - und warum man die Grund- und Menschenrechte neu denken und erweitern muss:
KURIER: Herr Nowak, wir erleben gerade einen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Damit hat Vladimir Putin offensichtlich Völkerrecht gebrochen. Ist Putin ein Kriegsverbrecher?
Manfred Nowak: Das wird sich erst weisen. Das hängt davon ab, ob Kriegsverbrechen begangen werden. Aber nach internationalem Strafrecht sind die vier wichtigsten Verbrechen: Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Aggression.
Was ist hier der Fall?
Einen souveränen Staat anzugreifen, ist das Verbrechen der Aggression. Putin fällt damit zurück ins 19. Jahrhundert. Ich hoffe, dass er irgendwann einmal vor dem internationalen Strafgerichtshof dafür zur Verantwortung gezogen wird.
Österreich ist laut Verfassung neutral, aber Teil der EU. Wie lang kann Österreich zusehen, wenn Grundrechte in Europa mit Füßen getreten werden?
Das ist klar ausgehandelt worden, als Österreich der EU beigetreten ist. Die Neutralität ist ein Spagat. Österreich ist volles EU-Mitglied, aber bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss seine militärische Neutralität berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite macht Österreich auch bei Auslandseinsätzen mit.
Der Autor Ferdinand von Schirach schlägt in seinem Buch “Jeder Mensch“ sechs neue Grundrechte vor, die die EU-Grundrecht-Charta erweitern sollen. Warum?
Grundrechte und Menschenrechte wurden immer als Reaktion auf akute Bedrohungslagen entwickelt und weiterentwickelt. Die haben sich natürlich verändert. Vor der elektronischen Datenverarbeitung war der Datenschutz nicht so wichtig - heute ist das ein wesentliches Grundrecht. Menschenrechte sind kein erratischer Block.
Warum ist eine Erweiterung notwendig?
Um den Planeten zu retten, brauchen wir ein Recht, in einer gesunden, geschützten Umwelt zu leben. Digitalisierung bringt viel Positives aber birgt auch viel Gefährliches. Bei wesentlichen Entscheidungen muss der Mensch die Entscheidungshoheit haben. Denken Sie nur an vollautomatische Waffensysteme und was wäre, wenn Menschen hier nicht das letzte Wort hätten. Das neoliberale Weltwirtschaftssystem hat zu vielen aktuellen Krisen – die Umweltkrise, exorbitante soziale Ungleichheit – wesentlich beigetragen. Dazu kommt die Macht der transnationalen Konzerne und ihrer Lieferketten. Wenn man die Krisen ernst nimmt, braucht es eine globale politische und wirtschaftliche Reform und eine Reform des Lissabonner Vertrags. Dafür haben wir mit der Initiative „Jeder Mensch“ bereits 250.000 Unterschriften in der EU gesammelt.
In der EU leben rund 450 Millionen Menschen mit unterschiedlichsten Interessen. Ihre Initiative mit 250.000 Unterstützern ist da doch nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein, oder?
Das stimmt. Aber unter der aktuellen französischen Ratspräsidentschaft hat Ferdinand von Schirach Unterstützung von Frankreich bekommen. Wenn einmal eine Million Menschen in der EU unterzeichnet hat, hat das ein gewisses Gewicht. Wir stehen vor einer Zeitenwende, das sehen wir auch in der Ukraine. Die Sicherheitsarchitektur und die Menschenrechtsarchitektur sind momentan massiv unter Druck. Der Multilateralismus ist unter Druck. Es darf nicht erst zu einem dritten Weltkrieg kommen, damit Menschen und Politiker erkennen, dass wir umdenken müssen. Es darf nicht zu einem Zusammenbruch des Planeten kommen. Wir müssen die Herausforderungen angehen, wenn wir unsere auf Demokratie und Menschenrechten beruhende Nachkriegsweltordnung retten wollen.
Sie sagen damit, um die Welt, wie wir sie kennen, retten zu können, muss man die Grundrechte dynamisch anpassen?
Ja. Das würde ich meinen. Aber die Grundrechte sind nicht nur weiter zu interpretieren, sondern man muss neue Grundrechte schaffen.
Wenn man die Grundrechte ändern kann, könnten die sich nicht auch ins Negative für die Allgemeinheit verändern?
Rein juristisch betrachtet, ist es möglich, Menschenrechte wieder aufzuheben. Das hat aber bisher noch nie stattgefunden. Es wurde immer nur mehr Rechte hinzugefügt. Ich gehe nicht davon aus, dass Menschenrechte gestrichen werden. Ich sehe eher die Gefahr, dass Staaten die Menschenrechte nicht mehr ernst nehmen. Russland und die Türkei verletzen Menschenrechte massiv. Es gibt Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Russland zunehmend ignoriert. Wir werden diesen Planeten nur retten, wenn wir zu Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren.
Kurz ein Blick nach Österreich: Wir erleben jetzt in Österreich durch die - potenzielle in Kraft tretende - Impfpflicht einen Grundrechtseingriff, der von Seiten der Regierung so argumentiert wird, dass er für den Gesundheitsschutz der Gesellschaft notwendig ist. Wann ist der Eingriff in die Grundrechte legitim?
Das hängt vom Menschen- oder Grundrecht ab. Es gibt nur wenige absolute Grundrechte. Das ist etwa das Sklaverei- und das Folterverbot. Das ist immer und überall absolut verboten. Aber die meisten Grundrechte haben eine Schrankenklausel. Etwa hat jeder Mensch das Recht auf Meinungsfreiheit aber gleichzeitig auch die Verantwortung. Wenn man andere zu Hass und Gewalt aufstachelt, hat der Staat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht meine Meinungsfreiheit diesbezüglich einzuschränken. Es ist immer eine Balance. Bei den Covid-Gesetzen und dem Recht auf Bewegungsfreiheit steht klar drinnen, dass der Eingriff legitim ist, wenn er zum Schutz der Volksgesundheit notwendig ist. Eingriff in Menschenrechte passieren ständig. Die Frage ist, ob sie gerechtfertigt sind. Dazu muss es die gesetzliche Grundlage geben und es muss das gelindeste Mittel gewählt werden, das einen legitimen Zweck erfüllt. Bei der Impfpflicht ist es klar. Es ist ein Eingriff auf mein Recht auf Privatheit aber kein Eingriff ins Recht auf körperliche Integrität, weil die Impfpflicht nicht mit physischer Gewalt durchgesetzt wird. Meiner Meinung nach ist es ein legitimer Eingriff in die Privatheit
Europa gibt sich gern als Musterschüler. Wo sehen Sie die größten Menschenrechtsdefizite in der Europäischen Union?
Ganz klar in der fehlenden gemeinsamen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die Ereignisse von 2015 waren ein Schock für Europa, die zur Aufrüstung von Fremdenhass und Populismus geführt haben. Grundsätzlich funktioniert der Grundrechtsschutz – außer in Ungarn, Polen und teilweise Slowenien – aber bei Flüchtlingen wird das Regime zurückgefahren. Stichwort: Festung Europa. Was mit den Menschen auf den griechischen Inseln gemacht wird, Pushbacks von Spanien bis Marokko, dass Asylanträge nicht mehr entgegengenommen werden, darin liegt die größte menschenrechtliche Schwachstelle der EU.
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