Martin Kocher: "Mindestsicherung ist ein Grundeinkommen"
KURIER: Vor einem Jahr sind Sie vom sicheren Job in der Wissenschaft in die Politik gewechselt. Ein Fehler?
Martin Kocher: Nein. Ich habe genau gewusst, worauf ich mich einlasse. Ich habe keinen einzigen Tag bereut. Es gibt bessere und schlechtere Tage in der Politik, aber die gab es auch in der Wissenschaft.
Hätten Sie sich gedacht, dass Sie in einem Jahr drei Bundeskanzler erleben?
Dass Politik turbulent ist, ist klar. Natürlich hat niemand am Anfang des Jahres vorhergesehen, dass es so turbulent wird. Aber es war klar, dass aufgrund der Pandemie die politische Dynamik noch stärker ist.
Haben Sie, so wie Heinz Faßmann, darüber nachgedacht, Ihr Amt zur Verfügung zu stellen?
Nein. Im Gegensatz zu Heinz Faßmann war ich erst kurz dabei. Für mich ist das Amt zwar auf eine befristete Zeit ausgerichtet, aber ein Jahr wäre zu wenig gewesen. Es gibt noch genug Aufgaben die nächsten zwei, drei Jahre, je nachdem, wie lange die Legislaturperiode dauert.
Aber Sie haben damals mitunterschrieben, dass Sie einer Regierung ohne Kurz nicht angehören werden.
Wir haben das in einer sehr zugespitzten Lage formuliert. Sebastian Kurz hat aber bei seinem Rücktritt als Bundeskanzler alle Minister aufgefordert, trotz dieses Schreibens im Amt zu bleiben. Es war aus meiner Sicht richtig, wie das gemacht wurde: das Schreiben, aber auch, dass dann die Regierungsarbeit weiter fortgesetzt werden konnte. Sonst hätten wir möglicherweise sehr chaotische Zustände gehabt.
Ende März 2022 soll die Arbeitsmarktreform fertig sein. Geht sich das aus?
Wir werden wahrscheinlich bis zum zweiten Quartal brauchen.
Sollte ein degressives Model beim Arbeitslosengeld kommen, bleibt die niedrigste Nettoersatzrate dann bei den bestehenden 55 Prozent?
Ich habe von Anfang an gesagt, es kann nicht viel unter der aktuellen Untergrenze liegen. Der entscheidende Punkt ist, dass wir differenziert diejenigen besser unterstützen, die es wirklich schwer haben am Arbeitsmarkt und gleichzeitig sicherstellen, dass jene, die auch eine zumutbare Beschäftigung annehmen können, dies möglichst rasch tun.
Wäre ein höherer Einstieg beim Arbeitslosengeld nicht ein Anreiz, sich kurzfristig arbeitslos zu melden?
Das muss verhindert werden, wenn es in der ersten Phase eine Erhöhung gibt.
Werden Sie die Zuverdienstgrenze senken?
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass bei einigen Beziehern von Zuverdienst und Arbeitslosengeld der Unterschied zu dem, was sie bei einer Vollzeitbeschäftigung beziehen, nicht mehr so groß ist. Die Zuverdienstmöglichkeit gänzlich abzuschaffen, wäre nicht sachgerecht. Man sollte den Zuverdienst aber auch nicht, so wie jetzt, unbefristet für alle ermöglichen. Es braucht eine differenzierte Lösung.
Wie soll der Arbeitsmarkt Österreichs in Zukunft aussehen?
Niemand kann seriöserweise sagen, wie die Nachfrage nach Arbeit und nach Arbeitskräften in zehn Jahren aussieht. Wir wissen, dass es gewisse Trends gibt. Durch die Digitalisierung braucht es mehr technisches Know-how, auch der Klimaschutz wird zu neuen Arbeitsplätzen führen. Das Entscheidende ist der Fokus auf einen flexiblen Arbeitsmarkt, wo Fortbildung und Weiterbildung noch schneller implementiert werden.
Aber in welche Richtung könnte sich der Arbeitsmarkt angesichts aktueller Herausforderungen ändern?
Aufgrund der Digitalisierung gehen einfache, repetitive Tätigkeiten zum Teil verloren. Das heißt, gerade diejenigen, die geringere Qualifikationen aufweisen, tun sich in der Zukunft möglicherweise noch schwerer. Andererseits sieht man, etwa bei Investitionen im Bereich des Klimaschutzes, dass es viele einfache Tätigkeiten gibt, die dazukommen werden. Wenn man Solarpaneele auf Dächern installiert, dann muss es jemanden geben, der auch die einfachen Tätigkeiten dabei übernimmt.
Eine klare Tendenz ist, dass die Vermögensschere in Österreich immer weiter auseinandergeht. Was spricht denn gegen ein generelles Grundeinkommen?
Dass die Vermögensschere langfristig auseinandergeht, ist zum Teil umstritten, und wegen mangelnder Daten schwierig zu belegen. In Zeiten der Vermögensinflation gibt es immer eine größere Schere, das kann bald wieder anders werden. Und die Mindestsicherung ist ja ein Grundeinkommen, wenn auch nicht völlig bedingungslos. Das halte ich auch für richtig, weil Menschen, die arbeitsfähig sind, auch arbeiten sollen. Unser Wohlstand und unser Sozialsystem beruhen auf dieser Arbeit.
Können Sie sich eine 30-Stunden-Woche vorstellen?
Eine generelle Arbeitszeitverkürzung würde dazu führen, dass beispielsweise im Dienstleistungsbereich, wo die Personalkosten, sagen wir, 80 Prozent der Gesamtkosten ausmachen, die Preise um etwa 20 Prozent steigen würden. Wir hätten zwar höhere Stundenlöhne, aber gleichzeitig auch viel höhere Preise. Deswegen ist es auch gut, dass branchenweise verhandelt wird über Kollektivverträge und darin über die Regelarbeitszeit.
Eine Branche, der jetzt schon Personal fehlt, ist die Pflege.
Hier werden sich im Rahmen der Kollektivvertragsverhandlungen die Löhne und die Arbeitsbedingungen verbessern müssen, damit es attraktiver ist, Pflegeberufe aufzunehmen. Das wird uns die nächsten zehn bis 15 Jahre beschäftigen.
Zurück zur Pandemie: Nimmt Ihrer Erfahrung nach die Wissenschaft in Österreich einen niedrigeren Stellenwert ein als anderswo?
Man sieht, dass alle Staaten mit ähnlichen Problemen kämpfen. Wir haben die schwierige Entscheidung zwischen Gesundheit und Menschenleben auf der einen Seite und all den negativen Folgen der Pandemiebekämpfung durch Lockdowns und ähnliche Einschränkungen auf der anderen. Es ist extrem schwierig in einer Pandemie, zwischen sozial- und naturwissenschaftlichem Fokus die richtige Balance zu finden. Ich glaube, wir haben es in Österreich nicht ausreichend geschafft, der Öffentlichkeit klarzumachen, wie Wissenschaft funktioniert, dass Wissenschaft Antworten geben kann, dass die richtigen Antworten sich aber gerade in der Pandemie rasch verändern können. Das sind Dinge, die in der Öffentlichkeit nicht so bekannt waren, wie erwartet. Da waren wir in der Wissenschaftskommunikation sicher nicht gut genug.
Kann es nicht sein, dass die Politik es der Wissenschaft teilweise erschwert?
Die Politik muss die Wissenschaft noch besser unterstützen. Aber es geht mir schon auch darum, dass die Wissenschaft ihre Verantwortung wahrnimmt.
Aber wir führen jetzt eine Impfpflicht ein, zu einer Zeit, in der das Vertrauen in die Politik extrem gering ist. Kann das funktionieren?
Es muss funktionieren, weil es einen Weg aus der Pandemie geben muss. Man kann diskutieren, ob die Pflicht die richtige Antwort ist. Ich glaube schon.
Bleibt am Arbeitsplatz trotz Impfpflicht die 3-G-Regel?
Aus meiner Sicht schon. Erstens haben die Sozialpartner ganz klar gesagt, dass 2-G am Arbeitsplatz einfach nicht durchführbar wäre. Es wird befürchtet, dass es sonst zu wenig Arbeitskräfte geben könnte in gewissen Bereichen. Für mich ist das wichtigste Argument, dass 2-G implizieren würde, dass Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, den Arbeitsplatz, den Anspruch auf Arbeitslosengeld und auf Sozialhilfe verlieren. Das heißt, die Strafen wären für Arbeitnehmer indirekt viel, viel höher als die Strafen für nicht erwerbstätige Impfverweigerer. Generell 2-G am Arbeitsplatz halte ich für überschießend.
Für Aufregung hat zuletzt ein Foto oder Video gesorgt, das Sie bei der „Licht ins Dunkel“-Gala vom Hinterteil Karoline Edtstadlers gemacht haben sollen …
Ich habe kein Video von der Frau Ministerin gemacht, sondern von dem, was da auf der Bühne passiert ist; kurz sieht man dann die Frau Ministerin, aber die Interpretation war komplett aus dem Zusammenhang gerissen.
Warum haben Sie das Video dann nicht veröffentlicht?
Warum soll ich etwas veröffentlichen, das dann vielleicht wieder aus dem Zusammenhang gerissen wird? Aber ich kann es Ihnen gerne zeigen …
Kommentare