Nach Leak bei Verhandlungen: "Provozieren, bis es eskaliert"

Absetzbarkeit des Kirchenbeitrags streichen? Kammerbeiträge kürzen? Grundwehrdienst auf zehn Monate verlängern? All diese Vorschläge, die am Samstagabend publik wurden, seien aus der ersten Verhandlungsrunde zwischen FPÖ und ÖVP. Zumindest in diesem Punkt widersprechen einander die Parteien auf KURIER-Rückfrage am Sonntag nicht.
Warum aber werden diese „alten Positionen“ – festgehalten auf 223 Seiten, die auch dem KURIER vorliegen und in „13 UG-Kapitel“ (Untergruppen) unterteilt sowie in schwarzer, grüner, blauer, orangener und viel roter Schrift gehalten sind – partout jetzt öffentlich?
Jetzt, nachdem sich FPÖ-Chef Herbert Kickl und ÖVP-Chef Christian Stocker nach getrennten Terminen beim Staatsoberhaupt darauf verständigt haben, die Verhandlungen am Montag fortzusetzen?
Für viele in der FPÖ lässt das nur einen Schluss zu: Die ÖVP habe „die Protokolle an die Öffentlichkeit gespielt, weil sie nicht mehr wollen“. Die Volkspartei provoziere – so die blaue Interpretation – „bis es eskaliert und einer von beiden aufsteht“.
Kickl erlaubte sich am Sonntag nur eine kleine Spitze gegen die ÖVP: Auf Facebook postete er einen Artikel, wonach Dänemark das „Asylwunder“ geschafft habe. „Warum erzählen uns ÖVP-Vertreter immer, dass strenge Asylpolitik der Wirtschaft schaden soll? Dänemark beweist das Gegenteil“, schrieb er dazu.
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Verständigung auf "wichtige Inhalte"
In beiden Parteien verweist man darauf, sich in der zweiten Verhandlungsrunde auf wichtige Inhalte verständigt zu haben. Vom „Kampf gegen den politischen Islam“ über die „Stärkung der Kindergrundrechte“ und die „Erleichterung der Rechtsmittel gegen Geschworenenurteile“ bis hin zu „steuerbegünstigten Überstunden/„Leistungs-Flattax von 20 Prozent“ oder einer „verfassungskonformen Reparatur des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes“ ist die Rede.
Vom (Verhandlungs-)Tisch sei eine Aufsplittung der Außen- und EU-Agenden, die die FPÖ ursprünglich im Sinn hatte – die ÖVP könnte sie bekommen. Zudem beansprucht die ÖVP seit Freitag nicht mehr das Finanzressort für sich. Auf die Besetzung des Innenministeriums bestehen beide weiterhin.
Der eine beim Golf, der andere am Berg
Bei gutem Willen könne man sich inhaltlich einigen, sind sich Vertreter beider Parteien einig, aber: „Zum notwendigen Kompromiss fehlt das Vertrauen. Kickl und Stocker müssen wollen und die Generalsekretäre“, heißt es in der ÖVP- wie in der FPÖ-Zentrale.
Doch die letzten Tage hätten das Misstrauen nur noch weiter geschürt und zum Gegenteil beigetragen. „Der eine spielt Golf und ist am Abend gern in Gesellschaft, der andere ist am Berg und gerne für sich. Das geht menschlich schwer zusammen.“
Auf Ebene der Generalsekretäre sei es um die Beziehungsebene nicht viel besser bestellt. FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz befinde sich im Dauerwahlkampfmodus, orte überall Gegner. Sein türkises Pendant, Alexander Pröll, sei in seiner Rolle noch nicht angekommen.
Dafür trage – so die FPÖ-Sichtweise – das derzeitige türkise Verhalten die Handschrift von Gerald Fleischmann. Der Kanzlerbeauftragte für Medienpolitik unter Sebastian Kurz, der Karl Nehammer einst und jetzt Stocker berät, ziehe im Hintergrund die Fäden.
Ampel-Verhandlungspapier als Basis
Ob, und wenn ja wem der Geduldsfaden reißt, das ist ungewiss. Sicher ist nur, dass die Stimmen, die über eine Expertenregierung nachdenken, lauter werden. Wie berichtet, soll Alexander Van der Bellen bei Nichtzustandekommen einer blau-schwarzen Regierung über die Bestellung von Experten nachdenken.
Diese könnten, so die Idee, auf Basis der bereits gefundenen Übereinstimmungen aus den Dreier- und Zweierkoalitionsverhandlungen die Geschicke des Staates lenken und mit den Stimmen der Parlamentsparteien Gesetze durchbringen.
„Das wird nichts“, sagen nicht nur Kritiker der nun Verhandelnden. Denn, so die Argumentation der Gegner einer Expertenregierung: Welches Animo sollte eine Parlamentspartei in der Vorwahlkampfphase haben, bei Einsparungen von Finanzminister Gunter Mayr mitzustimmen, wenn man Wahlen gewinnen will.
Geht es nach Umfragen, dann hätte die FPÖ derzeit den größten Vorteil von einem erneuten Wahlgang (im Durchschnitt 35,8 Prozent).
Der Abstand zu der zweitplatzierten ÖVP vergrößert sich, da diese gemäß Umfragen mit 18,4 Prozent gegenwärtig hinter die SPÖ (20,6 Prozent) fallen würde.
Einige FPÖ-Funktionäre halten es derzeit zudem für möglich, dass beim Bundesparteitag am 29. März 2025 Christian Stocker nicht nur offiziell zum ÖVP-Chef gewählt wird, sondern ein Spitzenkandidat für die Neuwahl präsentiert werden wird.
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