Was entgegnen Sie jenen, die palästinensisches mit jüdischem Leid aufrechnen – oder zumindest darauf hinweisen, dass man das Leid der unschuldigen Menschen in Gaza nicht vergessen dürfe?
Der zweiten Aussage kann ich vollkommen zustimmen. Wenn unschuldige Menschen getroffen werden, ist dies zutiefst zu bedauern. Die an den Machenschaften der Hamas unbeteiligte Zivilbevölkerung im Gazastreifen sind ebenfalls Opfer der Hamas. Israel tut bei seinem notwendigen Kampf gegen die Hamas alles Mögliche – weitaus mehr als das internationale Recht fordert – um ziviles Leben zu schonen. Wem immer die Zivilbevölkerung im Gazastreifen wirklich am Herzen liegt, sollte auf die Straße gehen und sich öffentlich gegen den Hamas-Terror stellen.
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Zuletzt hatte man den Eindruck, die öffentliche Stimmung sei gekippt – die Bilder von den Gräueln des Hamas-Überfalls sind durch jene aus dem Gazastreifen überlagert worden. Wie sehen Sie das?
Zwischen bedenklich und schlimm. Die Hamas benutzt die Zivilbevölkerung bewusst als menschlichen Schutzschild, um auch möglichst viele Opfer zu provozieren, und setzt die Bilder den eigenen bestialischen Gräueltaten propagandistisch gegenüber. Die Hamas versteckt sich hinter zivilen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern und hindert Zivilisten daran, Häuser und Gebiete zu verlassen, obwohl die israelische Armee versucht mit unterschiedlichen Warnhinweisen und viel Aufwand die Zivilbevölkerung zu schützen. Und genau hier liegt der Unterschied: Eine Demokratie tut alles Mögliche, um zivile Opfer zu vermeiden. Eine Terrororganisation versucht, diese zu maximieren. Jetzt gibt es über 200 israelische Geiseln im Gazastreifen, die befreit werden müssen.
Sie sind als Oberrabbiner ja die geistliche Führung der Israelitischen Kultusgemeinde: Gibt es aus so etwas wie eine "theologische" Deutung der aktuellen politischen Ereignisse?
Nein, wir Rabbiner sind nicht die Buchhalter des Himmels und maßen uns nicht an, solche Ereignisse theologisch zu deuten. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Jedoch glauben wir, an solchen Ereignissen nicht zu zerbrechen, sondern im Gegenteil daraus gestärkt hervorzugehen, was sich auch bereits zeigt.
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Wie beurteilen Sie für Österreich das Verhältnis von altem – rechtem – und neuem – importiertem muslimischen – Antisemitismus? Haben Sie das Gefühl, dass die Wachsamkeit gegenüber beiden stark genug ausgeprägt ist?
Während der letzten Jahre ist die Aufmerksamkeit und die Wachsamkeit gegenüber beiden Formen des Antisemitismus, sowie auch demjenigen von linksextremer Seite, stark gestiegen. Dies ist die Folge einer engen Zusammenarbeit der Kultusgemeinde Wien und der jüdischen Gemeinden Österreichs mit Politik, Behörden und der Zivilgesellschaft, welche sich diesbezüglich stets weiterentwickelt. Zeichen dafür sind der halbjährlich erscheinende Antisemitismusbericht, Dutzende an beschlossenen Maßnahmen sowie eine Vielzahl an gesellschaftlichen Initiativen zur Bekämpfung von Antisemitismus. Diese Solidarität ist wichtig für uns alle als Gesellschaft.
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Wie hat sich aus Ihrer Wahrnehmung jüdisches Leben in Österreich in den letzten Jahren entwickelt? Und – Sie waren ja etliche Jahre (2008–2015; Anm.) auch als Gemeinderabbiner in Köln tätig – wie sieht das im Vergleich mit Deutschland oder auch mit Ihrer Schweizer Heimat aus?
Jede Gemeinde hat ihr eigenes, vielfältiges Innenleben und ihren eigenen Charakter. In Österreich spielt sich der überwiegende Teil jüdischen Lebens in Wien ab – alles unter dem Dach der Kultusgemeinde. Diese Gemeinde ist im Wachsen begriffen, sehr aktiv und vielseitig, selbstbewusst und stark, aufgeschlossen, gut integriert und zukunftsgerichtet.
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