Imamin Seyran Ateş: "Islamisten haben sich eingenistet"
Seyran Ateş kennt das Gefühl, in Angst zu leben. Die deutsch-türkische Juristin war 21 Jahre alt, als sie 1984 in einer Frauenberatungsstelle schwerverletzt ein Schussattentat überlebte. Im Laufe ihres Lebens wurde sie wegen ihres Einsatzes für einen weltoffenen Islam, Frauen- und Menschenrechte beschimpft und auf offener Straße verprügelt. Für die Gründung ihrer liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin bekommt Ateş Morddrohungen. Seit 18 Jahren steht sie unter ständigem Personenschutz.
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 habe sich die Sicherheitslage für sie noch einmal verschärft, sagt sie im Gespräch mit dem KURIER. Die Extreme in der Gesellschaft hätten zugenommen. Ihre Moschee, in der Frauen und Männer gemeinsam beten und queere Menschen erlaubt sind, musste vorübergehend geschlossen werden.
"Permanente Leugnung der Probleme“
Der politische Islam sei heute die größte Herausforderung für Europa, so die in Berlin lebende Juristin. Politik und Gesellschaft hätten davor die Augen verschlossen, "aus Angst, dass es rechten Parteien nützt“. Ateş spricht von einer "permanenten Leugnung der Probleme“.
Österreich zähle längst zu den "Hotspots für Islamisten": "Sie haben sich hier eingenistet. Sie haben Akademien, Schulen, Einfluss über die Clans und die Moscheen." Aus Parallelgesellschaften seien Gegengesellschaften geworden. Der Imam oder der Patriarch sei in gewissen Bezirken mehr wert als der Bürgermeister. "Der Mut von Extremisten, in Hamburg und in anderen Städten auf die Straße zu gehen und das Kalifat zu fordern, ist gewachsen. Inzwischen gibt es Kinder, die in den Schulen genau diese Dinge fordern.“
Radikalisierung auf Social Media
Grund dafür sei auch Social Media, wo Tiktok-Imame und Hipster-Salafisten ein junges, für religiöse Fanatiker empfängliches Publikum erreichen. "Diese Jugendlichen werden von der Mehrheitsgesellschaft alleingelassen und erfahren keine Gegenaufklärung“, sagt sie. "Sie suchen Orientierung, Gemeinschaft und Menschen, die ihnen sagen, dass sie groß sind, weil sie Muslime sind.“
In den Schulen würden sich die Kinder gegenseitig massiv unter Druck setzen. "Dort gibt es so viel Extremismus“, sagt die Juristin. "Man hört Sätze wie 'Demokratie ist deine Religion, Islam ist meine Religion.‘ Dem müssen wir entgegenwirken.“ Sie fordert die Einführung eines Unterrichtsfachs "Demokratie“ und ein Verbot religiöser Symbole an Schulen.
Kritik übt Ateş auch an den Islamverbänden, "die von Orthodoxen dominiert sind“ und nicht die Mehrheit der Muslime in Europa repräsentierten. "Das kann sich ändern, wenn die österreichische Politik ihren Umgang mit der IGGÖ (Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich, Anm.) ändert. Denn das Gesetz entscheidet darüber, in welchem Rahmen eine islamische Gemeinschaft in einem Land arbeiten darf. Da bräuchte es Reformen.“ Liberale Muslime müssten mehr Gehör finden und stärker gefördert werden, fordert sie.
Erstarken von FPÖ und AfD
In den kommenden Jahren werde die Situation noch extremer, noch aufgeheizter sein, sagt sie. Denn der politische Wille für eine strengere Migrationspolitik und gegen fundamentalistische "Ghettos“ fehle in demokratischen Parteien. Die Folge? Christ- und Sozialdemokraten werden scheitern und radikale Kräfte Zuwächse erfahren, so ihre Prognose. "Was in den USA mit Donald Trump passiert ist, sehe ich in Österreich und Deutschland mit fünf bis zehn Jahren Verzögerung.“ Vor allem die Migranten würden dafür sorgen, dass AfD und FPÖ stärker werden, so Ateş.
Ihren Mut habe sie trotz massiver Anfeindungen nie verloren. Die vielen Schicksale, die sie täglich bei ihrer Arbeit in Schulen und Beratungsstellen erlebt, treiben sie an. "Aber auch die Wut, dass man mich töten wollte, nur weil ich mich für Frauenrechte einsetze, die Wut, dass man mich in die rechte Ecke stellt und immer noch eine Generation heranwächst, die leidet.“
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