"Viele haben den Polit-Stil der Regierung satt"

Oliver Rathkolb in seinem Büro im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien
Das Vertrauen in das politische System schwindet, der Wunsch nach einem "starken Mann" an der Spitze Österreichs wird lauter. Zeithistoriker Oliver Rathkolb im Gespräch über ein Demokratieverständnis in Bewegung, die Lehren aus dem Nationalsozialismus und weshalb die Frage nach einer "starken Frau" anders ausgegangen wäre.

Während die Österreicher mit Kopfschütteln in die Türkei blicken, wünschen sich nicht wenige auch hierzulande einen "starken Führer" an der Spitze des Landes. 23 Prozent, so das Ergebnis einer neuen Studie, die vom Historiker Oliver Rathkolb und dem Meinungsforschungsinstitut SORA durchgeführt wurde, wollen einen autoritären Herrscher, der sich - ähnlich wie Recep Tayyip Erdogan - nicht mehr um Wahlen und das Parlament kümmern muss. 43 Prozent würden sich mit einem "starken Mann" zufrieden geben. Für Oliver Rathkolb sind die Ergebnisse auch in den Zusammenhang mit der Einstellung zum Nationalsozialismus zu bringen. Je unkritischer dieser gesehen wird, desto eher rufen die Österreicher auch heute noch nach einem "starken Führer".

KURIER: Die Zustimmung zu autoritären Systemen ist in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen. 23 Prozent wünschen sich einen „starken Führer“ ohne Rücksicht auf Wahlen und Parlament. Wie erklären Sie sich das?

Oliver Rathkolb: Der Anstieg hängt sicherlich mit den ökonomischen und sozialen Problemen seit 2008 zusammen. Wir haben 2007 diese Frage erstmals gestellt. Damals lag die Zustimmung nur bei 14 Prozent. Wir leben in einer Zeit mit großen finanzpolitischen Krisen und Migrationsströmen. Die Wirkungsmacht der Globalisierung treibt die Menschen in Richtung autoritärer Modelle. Das ist zwar ein einfacher, aber sehr zutreffender Erklärungsansatz. Aber 23 Prozent sind schon eine kräftige Ansage. Menschen sind offenbar bereit, eine totalitäre Führungsfigur zu akzeptieren, also jemanden, der nicht gewählt, sondern an die Spitze gesetzt wird und nach seinen Wünschen und Vorstellungen regiert.

Die Ergebnisse der Studie im Detail finden Sie hier

Größer ist aber die Zustimmung für einen „starken Mann“. Hier liegt sie bei 43 Prozent.

Man muss hier unterscheiden. Ein starker Führer regiert de facto mit Volksakklamation – wie auch immer die zustande gekommen ist – ohne Parlament und ohne Wahlen. Hier geht es also wirklich um ein totalitäres Regime. Das haben wir in der Fragestellung auch explizit so festgehalten. Wir hätten auch fragen können: „Soll ein neuer Hitler kommen?“. Aber Leute antworten anders, weil sie wissen, das darf ich jetzt nicht befürworten. Der „starke Führer“ ist die Ersatzfigur für den Diktator. Der „starke Mann“ hingegen ist in einem parlamentarischen System eingebunden, mit Checks and Balances, Wahlen und einer unabhängigen Justiz. Viele Menschen erhoffen sich durch diesen „starken Mann“ eine klare und knappe Entscheidungsstruktur und damit erfolgreiche politische Lösungen.

https://images.kurier.at/46-95850458.jpg/259.448.746 KURIER/ Gerhard Deutsch Oliver RATHKOLB, Interview in seinem Büro, Instit… Oliver RATHKOLB, Interview in seinem Büro, Institut für Zeitgeschichte, altes AKH

Ist der „starke Mann“ ein „Führer light“, eine Vorstufe zum „starken Führer“?

Nein, ist er nicht. Es geht um die Suche nach Leadership und um klare Antworten auf komplexe Entwicklungen. Das ist ja auch das, was viele bei den Populisten suchen. Die tun sich da natürlich deutlich leichter, weil sie die Emotionen der Menschen aufwühlen. Das hat man ja auch in den USA bei Donald Trump perfekt gesehen. Hillary Clinton wurde als Lügnerin und Teil des Establishments gebrandmarkt. Und er, der selbst im Establishment zuhause ist, hat sich als Volks-Hero und neuer Robin Hood inszeniert. Dazu hat er mit allen Tabubrüchen, Emotionspaletten und Vorurteilen, die es gibt, gearbeitet. Aber man merkt schon jetzt, wie schwierig es ist, in diesem demokratischen System Trumps Form des egomanischen Populismus auch umzusetzen.

Der „starke Mann“ ist also am stärksten, solange er nicht liefern muss.

Genau. Wobei es natürlich auch hier Ausnahmen gibt. Ich erinnere an Angela Merkel, die sich mit einer klaren Linie, teilweise auch gegen ihre eigene Partei behauptet. Wenn man sich vorstellt, was die CSU seit einem Jahr macht, dann hält das normalerweise ein Politiker nicht aus. Sie hat das mit großer Contenance ausgesessen.

Wie wären denn die Antworten ausgefallen, hätten Sie nach einer „starken Frau“ gefragt?

Nach meinen Erfahrungen mit dem „Heldinnenplatz“ kann ich Ihnen garantieren, dass die Zustimmungswerte zu dieser Aussage komplett im Keller gewesen wären. Die Debatte um eine etwaige Umbenennung des Heldenplatzes löste, wie bei den „Töchtern“ in der Bundeshymne, bei vielen eine geradezu aggressive Abwehrhaltung aus. Da explodierten Online-Foren mit aufgeregten Postings. Die Österreicher sind nach wie vor männerfixiert.

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Kommen wir zu “Law & Order”: 61 Prozent der Österreicher wollen, dass vermehrt gegen „Außenseiter und Unruhestifter“ vorgegangen wird.

Die Zustimmung in dieser Höhe ist sehr überraschend. Meiner Meinung nach hängt das sehr stark mit den Folgen der Globalisierung zusammen. Die Unsicherheit ist gestiegen, viele Menschen fürchten sich vor dieser Unordnung und haben Angst vor der Zukunft.

Berechtigte Sorgen?

Ich glaube, der Soziologe Ralf Dahrendorf hat es Ende der Neunzigerjahre richtig prognostiziert: Wenn es Europa nicht gelingt, das erfolgreiche soziale Nachkriegssystem zu stabilisieren oder entsprechend zu modernisieren, wird es zu großen Auseinandersetzungen kommen. Und die Folge dieser Auseinandersetzung ist schon eine Zunahme an autoritären Einstellungen und Führerpersönlichkeiten. Dass sich nun mehr Menschen für strengere Strukturen einsetzen, bestätigt die Annahme Dahrendorfs.

Was erwarten sich Menschen, die für einen „starken Führer“ plädieren?

Gerade in Europa des 20. Jahrhunderts waren die meisten diktatorischen Systeme immer sehr stark auch sozialpolitisch ausgerichtet. Sei es im italienischen Faschismus oder im Nationalsozialismus. Den Menschen wurde vorgegaukelt, dass man eine "Volksgemeinschaft" durch eine perfekte soziale Struktur gliedern kann. Nicht gesagt wurde aber, dass das gleichbedeutend mit dem Weg in den Krieg war, also in eine totale Katastrophe. Aber der Führer war nahe dran am sozialpolitischen Aktivismus. Und genau das erwarten sich die Menschen auch heute noch.

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Lernt man nicht aus der Vergangenheit?

Doch, man glaubte sogar, dass die Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg mehr soziale Gerechtigkeit bringen wird. Aber aufgrund der Wirtschaftskrise, eine Folge des Krieges, ist das Gegenteil eingetroffen. Richtig gelernt haben dann die politischen Entscheidungsträger der Nachkriegszeit, nach 1945. Ob Christdemokraten wie Konrad Adenauer in Deutschland, oder Sozialdemokraten in Österreich wie Bruno Kreisky, sie haben diesen Konnex zwischen sozialer Krise und Diktatur verstanden und aus vergangenen Fehlern gelernt. Damals entstanden wohlfahrtsstaatliche Systeme, wie wir sie heute kennen.

Dann könnte man ja davon ausgehen, dass die Zustimmung für den „starken Führer“ gerade in dieser Zeit sehr gering war.

Mit dieser Annahme wäre ich vorsichtig. Die erste Umfrage, die nach ähnlichen Fragen operiert hat, fand 1978 in Österreich statt. Schon damals war das autoritäre Potenzial in der Bevölkerung sehr hoch. Und das war zu jener Zeit, als die Kreisky-Reformen an ihrem Höhepunkt angelangt waren. Erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren begann die Zustimmung zu autoritären Strukturen zu sinken. Seit den Nullerjahren beginnt sie aber wieder zu steigen.

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Was kann man dagegen tun?

Der Abbau autoritärer Einstellungen hängt sehr stark mit Bildung zusammen. Je höher der formale Bildungsgrad, umso geringer die Anfälligkeit für Autoritarismus. Sozialpolitische Maßnahmen kommen erst danach.

Sind die autoritären Einstellungen in diesem Ausmaß, wie sie von Ihnen erhoben wurden, gefährlich?

Sie sind dann gefährlich, wenn es soziale Krisen gibt. Wenn die Arbeitslosenrate hoch ist, weil die Automatisierung und Globalisierungseffekte Arbeitsplätze vernichtet, könnte jemand das autoritäre Potenzial in der Bevölkerung geschickt abrufen. Es ist nicht mal unbedingt notwendig, dass die Krise wirklich spürbar ist. Es reicht schon die Angst davor. Die Sorge, dass sich ein bestimmter Zustand noch weiter negativ entwickeln könnte, ist manchmal noch gefährlicher als die Realität. Beste Beispiele dafür sind der Brexit und das Türkei-Votum.

Wieso?

Die urbanen Metropolen, die von der Globalisierung profitieren und in denen es nach wie vor mehr Arbeit, Möglichkeiten und Bildung gibt, lehnten sowohl Brexit als auch die türkische Verfassungsreform ab. Sowohl in Großbritannien als auch in der Türkei erteilte man den „starken Männer“ in Großstädten eine Abfuhr. Nicht aber in ländlichen Gegenden, die nur marginal von Globalisierungseffekten profitieren.

Also müssen Politiker vermehrt aufs Land, um für ihre Botschaften zu werben?

Erinnern Sie sich an den Wahlkampf von Alexander Van der Bellen. Er hat sich von den urbanen Zentren Richtung ländliche Gebiete verabschiedet. Sein Gegenkandidat Norbert Hofer hat das nicht getan, was ihm schlussendlich die Hofburg gekostet hat. Denn die Interaktion mit Menschen hilft, bestimmte Ängste und Vorurteile abzubauen, was Rechtspopulisten, die auf diese Emotionen aufbauen, enorm schadet. Im digitalen Zeitalter klingt das ein wenig absurd, aber der direkte Kontakt könnte immer wichtiger werden.

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Na gut, aber die Umfrage wurde im Frühjahr 2017 durchgeführt, nach dem Wahlkampf von Van der Bellen.

Die Sehnsucht nach dem „starken Mann“ gibt es, ja. Es hängt auch damit zusammen, dass die Welt extrem kompliziert geworden ist. Die Politik schafft es nicht mehr, komplexe Zusammenhänge einfach zu erklären, ohne Luftblasen zu produzieren. Die Menschen suchen jemanden, dem sie vertrauen können.

Wenn sich die Österreicher einen „starken Mann“ wünschen, müsste man hierzulande nicht auch ein gewisses Verständnis für jemanden wie Erdogan haben?

Es geht um „unseren“ starken Mann. Was die Türkei betrifft, ist einfach das Ressentiment zu groß. Und Erdogan ist ja mehr als nur ein „starker Mann“. Das ist ein autoritäres System, in dem Parlament und Justiz de facto keine Rolle mehr spielen. Diese Checks and Balances, die es normalerweise in Präsidialrepubliken gibt, wie in den USA, sind in der Türkei nicht mehr gegeben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Erdogan von einem Richter behindern lässt, wie das in den USA selbst bei einem einfachen Bundesrichter geschehen kann.

Gleichzeitig - zum Wunsch nach dem "starken Führer" - ist die Zustimmungsrate zur Demokratie noch immer sehr hoch.

Sie war schon höher. Seit 2007 hat sie um acht Prozent abgenommen. Das ist nicht wenig. Man merkt also schon, dass es einen Krisenprozess gibt. Viele haben den Polit-Stil der Regierung satt, dieses ständige Hickhack, dieses ständige Streiten in der Öffentlichkeit. Deshalb vertrauen viele auch auf die starken Landeshauptleute in Niederösterreich, Oberösterreich und in Wien. Sprich: Wenn sich jemand als starker Landesvater inszeniert, dann wird er bei den Wählern auf eine hohe Zustimmung stoßen.

Bedeutet das, wenn in der Regierung gut gearbeitet werden würde, wäre der Wunsch nach dem „starken Mann“ weg?

Er wäre zumindest geringer.

Sind Sie als Zeithistoriker und NS-Experte enttäuscht, dass noch immer jeder Vierte denkt, Österreich wäre das erste Opfer des Nationalsozialismus?

Nein, für viele Österreicher stimmt das ja auch. Die Jüdinnen und Juden waren 1938 eindeutig ein Opfer. Und auch viele politisch Verfolgte und Widerstandskämpfer waren Opfer des Nationalsozialismus. Was mich wesentlich mehr irritiert, ist ein ziemlicher Generationsgap bei der Frage, ob der Nationalsozialismus für Österreich nur Schlechtes, nur Gutes oder sowohl Gutes als auch Schlechtes gebracht hat. Jene, die den Nationalsozialismus deutlich ablehnen, sind nicht die bis 35-Jährigen, sondern die Generation der 36- bis 52-Jährigen. Auch die 53-65-Jährigen sind noch deutlicher gegen den Nationalsozialismus positioniert. Sogar die Kriegsgeneration ist noch immer kritischer eingestellt als die Jugend.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Man merkt, wie wichtig es ist, das Thema Nationalsozialismus von Generation zu Generation neu zu verhandeln. Das ist ein sehr deutliches Signal – auch vor dem Hintergrund, dass die Befragung eine interessante Korrelation gezeigt hat: Je kritischer die Menschen gegenüber dem Nationalsozialismus sind, desto weniger sind sie für autoritäre Botschaften empfänglich. Aber ich glaube, das Problem liegt darin, dass die Jugend keine persönliche Erfahrung mit dem Nationalsozialismus hat. Die Schule schafft es nicht, das Thema herüberzubringen. Hier gäbe es meiner Meinung nach also einen ganz klaren Bildungsauftrag.

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33 Prozent der unter 35-Jährigen wollen oder können gar keine Angabe zu ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus machen.

Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass diese Generation kaum mehr fernsieht. In den Medien gibt es eine breite Palette an kritischen Berichten. Aber die Jungen konsumieren sie nicht mehr. Unser Bildungssystem hat mit der digitalen Revolution überhaupt nicht Schritt gehalten. Auch wir Historiker helfen brav bei Fernsehdokumentationen. Aber scheinbar erreichen wir damit nur die Generationen, die ohnehin schon von ihrer Meinung überzeugt sind.

Sie bräuchten also einen eigenen YouTube-Kanal?

Stimmt. Man muss sich jedenfalls etwas einfallen lassen. Vor allem für das Bildungssystem ist das aber ein schlechtes Ergebnis.

Wobei auch erwähnt werden muss, dass nur noch 40 Prozent glauben, die Diskussion über den Holocaust müsse beendet werden. 2007 waren das noch 48 Prozent.

Das hat mich positiv überrascht. Ich führe das auf die wachsende Gruppe der ab 36-Jährigen zurück, die von den klassischen Medien noch erreicht werden.


Zur Person: Oliver Rathkolb ist Historiker und Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, österreichische und internationale Zeit- und Gegenwartsgeschichte, österreichische Republikgeschichte im europäischen Kontext sowie Nationalsozialismus und Rechtsgeschichte.

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Hinweis: Eine Kurzfassung des Interviews erschien am 21. April in der KURIER-Tageszeitung.

Die Umfrage wurde von Oliver Rathkolb und vom Meinungsforschungsinstitut SORA durchgeführt. Insgesamt wurden 1.000 Personen ab dem 15. Lebensjahr telefonisch (repräsentativ für Österreich) über ihr Geschichts- und Demokratiebewusstsein befragt. Die Untersuchung fand in den Monaten Februar und März dieses Jahres statt, die maximale Schwankungsbreite beträgt +/- 3,1 Prozent. Finanziert wurde die Untersuchung vom Zukunftsfond der Republik Österreich.

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