Ich bin nicht der Sprecher des Verfassungsgerichtshofs. Aber ich bin überzeugt, dass er sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und kein Argument übersehen hat. Der Präsident und alle Mitglieder wissen, wie sehr sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Der Gerichtshof musste eine Interessensabwägung vornehmen, und das Resultat war eine klare Entscheidung, die gerade ein Minister befolgen muss.
Der frühere Vizekanzler hat der Bundesregierung nicht zuletzt deshalb ein „problematisches Verhältnis zum Rechtsstaat“ attestiert ...
Nicht nur Reinhold Mitterlehner, sondern zum Beispiel auch die Präsidentin der Richtervereinigung – sowie viele andere Spitzenjuristen. Der Respekt vor der Justiz und insbesondere vor einem Höchstgericht ist eine Grundsatzfrage. Viele waren auch erstaunt, dass der Bundeskanzler die Entscheidungen des Höchstgerichts zu verschiedenen Verordnungen im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung als „juristische Spitzfindigkeiten“ bezeichnet hat.
Bleiben wir beim Kanzler: Was sagen Sie zu der Tatsache, dass politische Anzeigen aus dem U-Ausschuss heraus zu Ermittlungen gegen ihn geführt haben. Gefällt Ihnen diese Vorgangsweise?
Auf diesem Gebiet gilt folgender Grundsatz: Wenn jemand zur Auffassung gelangt, dass ein strafbarer Tatbestand vorliegt, dann hat er das Recht oder sogar die Pflicht, die Behörde darauf aufmerksam zu machen. Dann ist es Sache der ermittelnden Behörden, die notwendigen Schritte zu setzen. Die Entscheidungen der Justiz hängen vom Sachverhalt ab, nicht von der Person oder der politischen Einstellung dessen, der auf den Sachverhalt aufmerksam gemacht hat. Es kann nicht akzeptiert werden, wenn jemand so tut, als hänge die Entscheidung der Justiz davon ab, ob eine Sachverhaltsdarstellung von einem Parlamentarier, einem Anwalt oder von einer Privatperson kommt.
Wie würden Sie agieren, wären Sie noch Bundespräsident? Manch einer würde schon jetzt gern deutlich von Alexander Van der Bellen hören, ob ein angeklagter Kanzler im Amt bleiben darf.
Ich habe alle bisherigen Stellungnahmen des Bundespräsidenten als wohl überlegt und dem Rechtsstaat dienend empfunden. Auch die Aussagen der Justizministerin geben den Richtern und Staatsanwälten Rückhalt. Was die Frage betrifft, ob ein angeklagter Minister oder Bundeskanzler im Amt bleiben kann, gibt es eine intensive Diskussion in Medien und Zivilgesellschaft. Aber es spricht einiges dafür, dass hohe Funktionäre des Staats zunächst den Inhalt einer allfälligen Anklage abwarten, ehe sie sich dazu festlegen.
Ein gröberes Thema ist derzeit die politische Sprache: Minister bezeichnen das Parlament als Löwingerbühne, Oppositionspolitiker sprechen dem Kanzler grundweg jeden Anstand ab. Was passiert da gerade?
Wir beobachten eine Verschlechterung des politischen Klimas und eine Verschärfung der Sprache – beides gefällt mir nicht. Ich habe in meinen zwölf Jahren als Präsident des Nationalrates sehr viel Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass bei der Sprache bestimmte Grenzen nicht überschritten werden. Bundeskanzler Vranitzky hat in seinen Memoiren geschrieben, dass ich bei Abgeordneten der eigenen Partei immer eine Nuance strenger war als bei jenen der Opposition. Das habe ich bewusst getan, um sicherzustellen, dass der Verdacht einer Einseitigkeit gar nicht entstehen kann. Gerade auf diesem Gebiet haben wir in der Geschichte Erfahrungen gemacht, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen.
Welche meinen Sie?
Ich meine die traurigen Erfahrungen aus der Ersten Republik, die glücklicherweise beim Neubeginn der Zweiten Republik berücksichtigt wurden. Wir haben gelernt, dass die Zusammenarbeit in der Staatspolitik eine wichtige Rolle spielt. Und dass der Respekt vor der Verfassung und dem Rechtsstaat zentrale Bedeutung haben. Es gibt den schönen Satz von Sir Karl Popper, der lautet: „Ich kann Recht haben, und du kannst irren, du kannst Recht haben, und ich kann irren – aber gemeinsam werden wir der Wahrheit näherkommen.“ Das könnte in der jetzigen Situation recht nützlich sein.
Inwiefern?
Insofern, als wir mehr Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie und der Justiz haben sollten. In der ÖVP hat eine Gruppe von relativ jungen Leuten, die sich selbst als „Familie“ betrachten, das Ruder übernommen. Sie haben Wahlen gewonnen – was zu respektieren ist – und damit sehr viel Macht erlangt. Das Bestreben nach weiterer Ausdehnung und dauerhafter Absicherung ist unübersehbar; dennoch oder gerade deshalb müssen die Instrumente zur Kontrolle, Teilung und Begrenzung der Macht unangetastet bleiben.
Kann man die Entwicklungen wirklich nur der Regierung vorhalten? Die SPÖ und die gesamte Opposition lassen an der Bundesregierung fast nie ein gutes Haar…
Ich sage nicht, dass nur die Regierung schuld ist. Aber größere Macht heißt größere Verantwortung: Und die Fakten, die in letzter Zeit durch die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses ans Tageslicht gekommen sind, sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Schadet das Österreich im Ausland?
Hilfreich ist es mit Sicherheit nicht.
Was, wenn sich das Klima weiter aufheizt? Gibt es lachende, der Demokratie nicht wohlgesonnene Dritte?
Wenn mich Freunde fragen, ob ich Österreichs Demokratie in Gefahr sehe, antworte ich, dass ich sie nach wie vor für gefestigt halte. Im Unterschied zur Ersten Republik ist heute ein großer Teil der Bevölkerung für eine stabile, parlamentarische Demokratie, für den Rechtsstaat und für Grund- und Freiheitsrechte. Damit das so bleibt, muss der Rechtsstaat unangetastet bleiben. Und es sollte ernste Bemühungen geben, die politische Kultur als etwas Wichtiges zu betrachten und sie zu verbessern.
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