Rathkolb: "Haben Erinnerung an Pandemien verdrängt"

Rathkolb: "Haben Erinnerung an Pandemien verdrängt"
Die staatlichen Institutionen haben sich in der Krise bewährt, sagt Zeithistoriker Oliver Rathkolb. Bei Europas Solidarität gibt es für ihn aber noch Luft nach oben.

KURIER: Herr Professor, vorweg eine persönliche Frage: Wie erleben Sie die Pandemie? Es gibt ja Künstler und Wissenschafter, die sagen, die Lockdowns seien gar nicht so belastend, weil sie sich da ganz ungestört ihrer Arbeit widmen konnten.

Oliver Rathkolb: Also ich sehe das sehr ambivalent. Zunächst einmal muss ich sagen, dass wir Zeitgeschichte-Forscher – und da schließe ich mich explizit mit ein – die Erinnerung an frühere Pandemien verdrängt und zu wenig aufbereitet haben. Ich erinnere etwa an die Spanische Grippe gegen Ende des Ersten Weltkrieges. Sie hat mehr Opfer gefordert als der Krieg selbst. Mein eigener Urgroßvater ist in Wien an der Spanischen Grippe verstorben, und ich selbst habe das lange nicht beachtet. Abgesehen davon hat die Pandemie viele neue Möglichkeiten aufgezeigt, was die Digitalisierung angeht. Die Online-Kommunikation wird dazu beitragen, dass unnötige Besprechungen, für die man quer durch Europa geflogen ist, nicht mehr stattfinden. Das ist sehr positiv. Aber es gibt auch Schattenseiten.

Welche?

An der Universität Wien haben wir schnell gesehen, dass der persönliche Dialog allen fehlt – den Studierenden genauso wie uns Lehrenden. Die Studenten haben unter der Situation zum Teil extrem gelitten. Nicht nur, weil die persönliche Interaktion im Seminar oder der Vorlesung gefehlt hat. Es hat sich etwas gezeigt, was die Universität selbst auch noch nicht so richtig verstanden hat, nämlich: dass sie viel mehr ist als nur eine Lehreinrichtung. Die Universitäten haben eine wichtige soziokulturelle Funktion. Ich hoffe, dass dieser Stellenwert in Zukunft präsenter im gesellschaftlichen Bewusstsein bleibt.

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