Damals wurden Grippeopfer aus dem Permafrostboden Alaskas exhumiert, um ihr Erbgut zu untersuchen. Heute nennt die Wissenschaft die so entdeckte Überreaktion des Immunsystems „Zytokin-Sturm“: Fitte Immunsysteme jüngerer Menschen zwischen 15 und 40 haben neben dem Virus auch gesunde Körperzellen attackiert – deren Abfallmaterial hat die Lungenarterien verstopft, woran die Patienten dann erstickt seien, schreibt etwa der Medizinhistoriker John M. Barry 2004 in The Great Influenza.
Immer dieselben Muster
Damals wie heute, beobachtet Jütte, folgt der Umgang mit Pandemien immer einem bestimmten Muster: „Das, was Sie vor 100 Jahren in der österreichischen Presse als Reaktion auf die Spanische Grippe lesen, kommt uns unheimlich bekannt vor.“ So lautete eine der Schlagzeilen: Warum geschieht nichts gegen die Grippe. Fort mit dem Amtsschimmel (siehe Faksimile unten).
„Insofern glaube ich schon, dass der Historiker die Aufgabe hat, zu sagen: ,Wir kennen diese Probleme seit Jahrhunderten, wir müssen damit umgehen, Seuchen kommen und gehen.‘“ Jütte weiter: „Das Einzige, was Corona von früheren Epidemien unterscheidet, ist der Erreger. Das ist zwar wissenschaftlich interessant, aber für den Umgang mit der Seuche völlig unerheblich.“
Leider gebe es für Deutschland und Österreich kaum historische Untersuchungen. „Insofern wissen wir wenig über Verlauf und Ausmaß sowie die Wirkung der Maßnahmen. Wegen des alles überschattenden Ersten Weltkrieges kam die Grippe erst an dritter Stelle des Interesses: „Man hatte den Krieg verloren, der Kaiser war weg, da war die Pandemie nicht so stark im Fokus.“
Ganz anders in Amerika
„Aus 43 US-Städten gibt es wunderbare Daten, die belegen, dass jene, die früh reagiert haben, auch früher und besser aus der Krise gekommen sind.“ Liberale Städte wie Philadelphia haben nichts getan und sogar Paraden mit 200.000 Besuchern abgehalten. Nach einer Woche waren 45.000 Bürger infiziert, schon bald 12.000 tot. Insgesamt war die Sterblichkeit doppelt so hoch wie in St. Louis, wo man früh Maßnahmen wie Schul- und Theaterschließungen und ein Verbot von Gottesdiensten gesetzt hatte. Besonders spannend: Die strengen Städte hatten nach der Pandemie höhere Produktionsraten und weniger Arbeitslose als die, die locker mit der Krankheit umgegangen waren.
Auf die Frage, ob wir nach dem lockeren Sommer zu sorglos waren, meint Jütte: „Als Historiker ist man immer der rückwärtsgewandte Prophet.“ Noch wage er keinen Vergleich zwischen Covid-19 und der Grippe. Nur so viel: „Man kann als Historiker schon einiges verdeutlichen. Ich würde dazu raten, darauf zu achten, wie menschliches Verhalten sich im Lauf der Geschichte wiederholt, und dass – z. B. bei Impfwiderständen – Ängste eine Rolle spielen, die schon seit 200 Jahren in der Bevölkerung existieren und immer wieder im neuen Gewand daherkommen.“
Alleine auf Impfungen zu vertrauen, ist für Jütte ohnedies der falsche Weg: „Sie sind ein wichtiges Instrument. Aber die klassischen Maßnahmen Quarantäne, Isolation, Hygiene und Lebensstandard, damit Menschen in einer guten Verfassung sind, was das Immunsystem betrifft, das sind Dinge, die man aus der Seuchengeschichte ableiten sollte.“
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