Güngör: "Auftrittsverbot wichtiges Zeichen Richtung Erdogan"

Kenan Güngör
Für den Soziologen Kenan Güngör heizt das geplante Gesetz zum Auftrittsverbot ausländischer - vorrangig türkischer - Politiker die Polarisierung in der türkischen Community weiter an. Dennoch hält er es für ein wichtiges Signal gegen das Amtsverständnis Erdogans. Nachdem es in der Türkei quasi keine Opposition mehr gebe, sei es umso wichtiger, dass Erdogan nicht auch noch in Europa hofiert werde.

Kurier.at: Seit gestern liegt der Gesetzestext zur sogenannten "Lex Erdogan" von Innenminister Sobotka vor. Wie fallen die Reaktionen in der türkischen Community dazu aus?

Kenan Güngör: Es heizt natürlich die Polarisierung weiter an. Die Pro-Erdogan Seite nimmt den Entwurf von Minister Sobotka als Anlass zu sagen: "Aha, seht her, in Europa gibt es keine Meinungsfreiheit. Hier werden sogar Auftritte von offiziellen Regierungsvertretern untersagt." Es wird also zynisch umgedeutet und politisch instrumentalisiert zur Delegitimierung der Kritik aus Europa. Das ist auch die Kommunikationslinie der türkischen Regierung, die das zugleich als eine Türken-feindliche Aktion sieht. Damit wird übersehen, dass es dabei eigentlich um die Kritik an einer repressiven und autoritären Richtung geht, die die türkische Regierung mit der geplanten Verfassungsänderung eingeschlagen hat.

Und die Erdogan-Gegner?

Es gibt eine verhaltene, aber nicht zu unterschätzende Seite, die sagt: "Das ist eben das, was passiert, wenn man überall so herumpoltert und polarisiert." Viele empfinden das als sehr unangenehm, weil sie merken, dass diese Polarisierung – auch durch Erdogan – ihnen nicht zuträglich ist, ihnen sogar schadet. Diese Gruppe ist zwar nicht so lautstark wie die Erdogan-Anhänger, aber sie ist zumindest keine Minderheit. Und dann gibt es noch die dritte Gruppe von jenen Leuten, die sagen, dass sich in der Türkei eine zunehmend antidemokratische Struktur entwickelt und die deshalb Erdogan in Europa oder Österreich keinen Boden anbieten wollen. Besonders, weil der Wahlausgang in der Türkei so knapp werden wird, wie Meinungsumfragen zeigen. In der Türkei gibt es für die Opposition nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten ihre Positionen der Öffentlichkeit nahe zu bringen. Das Meinungs-Machtmonopol Erdogans erdrückt und kriminalisiert sie. Umso wichtiger ist es für dieses demokratisch-liberale Spektrum, dass Erdogan nicht auch noch in Europa hofiert und ihm der Raum gegeben wird.

Alle Umfragen gehen davon aus, dass das Referendum am 16. April sehr knapp entschieden wird. Wie sieht die Verteilung in Europa – insbesondere in Deutschland oder Österreich aus?

Dazu gibt es leider keine Daten. Die letzten Parlamentswahlen geben allerdings einen Hinweis darauf, wie die Verteilung ungefähr aussieht (Anm. zur Stimmenverteilung siehe unten). Es geht letztlich um die Mobilisierung. Zur Botschaft zu gehen und die Stimme abzugeben, ist schon ein Aufwand. Erdogan wird jedenfalls alles daran setzen, um eine Blamage zu verhindern. Aktuelle Prognosen gehen ja sogar von einer leichten Mehrheit gegen die Verfassungsänderung aus. Interessant ist aber, dass in Umfragen trotzdem 80 Prozent der Leute glauben, dass Erdogan das Referendum gewinnen wird. So stark hat sich der Gedanke, dass Erdogan mit allem durchkommt, egal, was er macht, festgesetzt. Würde er tatsächlich verlieren, wäre das ein massiver Rückschlag in seinem Gewinner-Nimbus. Faktisch würde sich allerdings wenig ändern: Die Türkei ist schon jetzt ein autokratischer Staat, auch ohne rechtlich zementiere Grundlage.

Ist dieses "Lex Erdogan" in diesem Sinne vielleicht sogar ein positives Zeichen in Richtung der Türkei? Als deutliches Stopp-Signal für einen vermeintlich allmächtigen Präsidenten Erdogan?

Erstmal ist es natürlich eine unglaublich starke narzisstische Kränkung für die AKP, weil es damit eine diametral gegenläufige Entwicklung zum Machtausbau in der Türkei und zum Einfluss in Europa gibt. Meiner Meinung nach trifft diese Zweischneidigkeit insbesondere Erdogan tief in seinem narzisstischen Selbstverständnis als absoluter Herrscher. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese kontroverse Diskussion und die damit einhergehende polarisierte Stimmung, die wir jetzt in Österreich und auch in Deutschland erleben, möglicherweise einen kontraproduktiven Effekt haben kann, indem sie Erdogan letztlich dabei hilft, seine Anhänger in der türkischen Community zu mobilisieren. Das ist die Ambivalenz.

Deutschland ist hier deutlich weniger konfrontativ. Merkel verbittet sich natürlich Nazi-Vergleiche. Was die Auftritte betrifft, überlässt man es aber den lokalen Behörden eine Entscheidung zu etwaigen Verboten zu treffen, wie das zuletzt in Gaggenau oder Köln passiert ist. Was steckt hinter diesen unterschiedlichen Zugängen?

Faktisch werden die Auftritte ja auch in Deutschland verhindert. Nur eben ohne, dass sich die Regierung großartig exponiert. Damit werden diplomatische Beziehungen, auch das Flüchtlingsabkommen nicht weiter belastet – es ist also eine kleine Schwindelstrategie. Auf der anderen Seite sind in Österreich die Ressentiments insgesamt gegen Türkeistämmige größer. Eine starke Haltung gegenüber der Türkei ist populär. Was in Deutschland also implizit gemacht wird, wird hier explizit gemacht. Dazu kommt das Gebaren Erdogans in den letzten Jahren, der seine autokratischen Tendenzen inzwischen nicht einmal mehr versteckt. Wenn deutsche Journalisten als Terroristen bezeichnet werden, wird ziemlich klar, dass es Europa hier mit einem kriminalisierenden Antidemokraten sondergleichen zu tun hat. Und auch im Ausland tritt Erdogan ja alles andere als diskret auf. Wenn Wahlkämpfe veranstaltet werden, als handle es sich um eine Ausweitung des territorialen Gebietes, ist das problematisch. Ich erinnere daran, dass Erdogan von 2002 bis 2007 noch als Brückenbauer wahrgenommen wurde. Die ÖVP kam seinerzeit mit einer Delegation nach Ankara und bat die Türkei, sich besser um die in Österreich lebenden Türken zu kümmern und positiv auf deren Integration einzuwirken. Das war damals falsch, weil es Erdogan und den hier lebenden Türkeistämmigen vermittelte, dass die Türkei und nicht Österreich für sie zuständig ist. Heute ist das undenkbar.

Güngör: "Auftrittsverbot wichtiges Zeichen Richtung Erdogan"
Interview mit dem Integrationsexperten Kenan Güngör am 01.09.2016 in Wien.

Wie sehr nützt Erdogan diese Reibung mit der EU in seinem Wahlkampf? Versucht er dadurch auch von anderen, etwa wirtschaftlichen Problemen, abzulenken?

In vielen Medien war insbesondere von der Absage in Gaggenau wenig zu hören. Es wurde also versucht, das klein zu halten, weil es doch eine Demütigung war. Die Absagen waren also kein politisches Kalkül, die kamen überraschend. Erst nachdem Erdogan in den Gegenangriff ging, wurde das groß berichtet. Erdogan spielt grundsätzlich mit dem anti-europäischen, dem anti-westlichen Ressentiment. Bei seinen Auftritten ist einer der ersten Sätze, die er an sein Publikum im Ausland richtet: "Wir werden nicht vergessen, was Europa euch angetan hat." Es wäre bedenklich, wenn er damit durchkommt. Wenn man die Auftritte also verbietet, Erdogan es aber trotzdem schafft, aufzutreten. Aber was soll denn noch passieren, damit demokratische Länder aus dieser verhaltenen Schweigsamkeit heraustreten? Derzeit leistet die Türkei einfach einen massiv desintegrativen Beitrag – und das wird den Türkeistämmigen, die hier leben nur schaden.

Sie begrüßen also die Gesetzesinitiative von Innenminister Sobotka?

Es sind ja noch einige Fragen offen, aber grundsätzlich halte ich das für sinnvoll Es ist ja auch eine neue Problemstellung, die sich hier ergibt. Die Politik war auf diese Frage bisher nicht eingestellt. Das Auftrittsverbot ist so ein wichtiges Zeichen Richtung Erdogan. Wobei die große Frage ja nicht die ist, ob Erdogan hier auftritt oder nicht. Auch die Sicherheitsfrage halte ich nicht wirklich für relevant. Es geht um die Polarisierung innerhalb der Türkeistämmigen, wie auch die zunehmende Verfremdung von AKP-nahen Menschen und Österreich. Diese Zerrissenheit wurde seitens der AKP in den letzten Jahren massiv vorangetrieben und dient dem politischen Kalkül Ankaras. Ich wünschte mir, dass sich die Türkeistämmigen hier nicht davon treiben lassen.


Zur Person: Der Soziologe Kenan Güngör (*1969 Türkei) kam mit sieben Jahren nach Köln. Er ist Inhaber des Büros „think.difference“ für Gesellschaft, Organisation und Entwicklung in Wien. Er gilt als Kenner der türkischen Politik und der türkischen Community in Österreich und Deutschland.


Anmerkung: Bei der Parlamentswahl im Juni 2015 gaben 37.291 Austrotürken ihre Stimme ab. Anders als in der Türkei errang die AKP damals eine absolute Mehrheit, rund 64 Prozent wählten die Erdogan-Partei, die HDP 13 Prozent. Bei den Wahlen im November 2015 blieb der Stimmenanteil im Wesentlichen gleich, in der Türkei holte sich die AKP jedoch die absolute Mehrheit zurück - Hinweis: Die Ergebnisse der Parlamentswahl vom Juni 2015 wurden am 10.3. um jene von November 2015 ergänzt.

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