Griss: "Freiheit bedeutet nicht, das Leben des anderen gefährden zu dürfen"
Irmgard Griss über die Pervertierung des Freiheitsbegriffs durch Impfgegner, Rechte und Pflichten in einer Gesellschaft und Fake News ohne Konsequenzen.
KURIER: Impfgegner argumentieren häufig mit dem Begriff der Freiheit. Unterliegen sie da einem Missverständnis?
Irmgard Griss: Ja. Die Freiheit des Einzelnen kann nur so weit reichen, wie sie die Freiheit des anderen nicht einschränkt. In einer Pandemie bedeutet das, nicht das Leben des anderen zu gefährden. Wenn man sich nicht impfen lässt, riskiert man, jemanden anzustecken, der erkranken oder sterben kann.
Es gibt also keine Freiheit ohne Pflichten?
Ich würde nicht von Pflicht, sondern von Verantwortung sprechen. Und diese konkretisiert sich in Pflichten: Ich darf auch als freier Mensch nicht ins Haus meines Nachbarn gehen und mich dort breitmachen. Diese Einschränkung durch das Hausrecht und das Eigentum des anderen muss ich hinnehmen. Uneingeschränkte Freiheit gibt es nur auf einer einsamen Insel. Aber nie in einer Gesellschaft.
Was würde uneingeschränkte Freiheit des Einzelnen für die Gesellschaft bedeuten?
Dass niemand mehr frei ist. Jeder müsste damit rechnen, dass der andere über ihn verfügt. Zu machen, was ich will, ohne Rücksicht auf andere, ist nicht die Freiheit, die der Rechtsstaat garantiert.
Sondern?
Dass ich mein Leben so gestalten kann, wie ich will. Und vor allem, dass ich nicht ohne Grund eingesperrt werden darf. Das Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit umfasst aber auch Sicherheit. Ich kann also die Freiheit nicht so ausüben, dass die Sicherheit des anderen gefährdet ist. Schrankenlose Freiheit ist nirgendwo geschützt.
Bei den Demonstrationen kommt der Begriff Diktatur leichtfertig zum Einsatz. Wie ist es um die Freiheit der Österreicher bestellt?
Sie hat einen hohen Stellenwert. Es müssen strenge Vorschriften eingehalten werden, um etwa in die Bewegungsfreiheit einzugreifen. Der Gesundheitsminister kann einen Lockdown nicht alleine verfügen, er braucht die Zustimmung vom Hauptausschuss des Nationalrats. Also vom Parlament, das die Bürger vertritt. Solche Eingriffe können nicht aus Jux und Tollerei erfolgen.
Wie erklären Sie sich deren Anspruch auf uneingeschränkte Freiheit?
Es ist wohl eine Folge der Individualisierung. Der soziale Druck hat abgenommen, der Einzelne kann sein Leben gestalten, wie er möchte. Das ist ein großer Fortschritt. Daraus kann aber auch der Anspruch entstehen, überhaupt keine Einschränkungen mehr hinnehmen zu wollen. Und wer etwas vorschreibt, hat diktatorische Züge.
Juristin: Griss war von 2007 bis 2011 Präsidentin des Obersten Gerichtshofs.
Causa Hypo: 2014 übernahm sie die Leitung der Hypo-Untersuchungskommission.
Politik: 2016 kandidierte sie für die Bundespräsidentenwahl. Danach saß sie für die Neos im Nationalrat.
Von Diktatur zu sprechen, während man sein Versammlungsrecht ausübt, hat eine gewisse Ironie.
Die Versammlungsfreiheit ist ein wesentliches Grundrecht und dann von besonderer Bedeutung, wenn sich eine Gruppe unterdrückt fühlt. Ihnen dieses Recht zu nehmen, würde die Situation verschärfen. Ich finde, das müssen wir aushalten können.
Die FPÖ nahm sich zuletzt des Öfteren die Freiheit, Fake News zu verbreiten. Hat sie diese tatsächlich auch?
Wir haben im Strafrecht keine Norm, die das verbietet. Es ist weder Verleumdung, also der Vorwurf einer Straftat gegenüber einer Person, noch Verhetzung, weil sich diese gegen eine bestimmte Gruppe richten muss. Wenn Frau Belakowitsch behauptet, die Spitäler seien wegen der Impfschäden überfüllt, ist das Verbreitung falscher Tatsachen. Und dagegen haben wir keine Bestimmung. Es gab einen Paragrafen, der das Verbreiten falscher Gerüchte untersagt hat. Aber er wurde 2015 aufgehoben.
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