Fischer und Nowotny: "EU ist die Bewahrerin der Identität"

Fischer und Nowotny: "EU ist die Bewahrerin der Identität"
Gedenkjahr: In der EU und mit der Sozialpartnerschaft wird Österreich in Zukunft gut fahren, sagen Fischer und Nowotny.

Die Österreichische Nationalbank nimmt das Gedenkjahr 2018 zum Anlass, nicht nur in die Vergangenheit zu blicken, sondern einen Bogen in die Gegenwart und in die Zukunft zu spannen. Am kommenden Freitag, den 27. April, veranstaltet die ONB ein Symposium zu Österreichs künftiger Positionierung. Als Auftakt gaben Alt-Bundespräsident Heinz Fischer und ÖNB-Gouverneur Ewald Nowotny dem KURIER-Fernsehen SchauTV ein Doppelinterview. Das Gespräch führte die stellvertretende Chefredakteurin Martina Salomon.

KURIER: Der Republikgedanke war den Österreichern nicht eingeimpft, es gab große Skepsis gegenüber der Ersten Republik. Heute sind wir ein kleines, reiches Land, und es gibt eine hohe Skepsis gegenüber der EU. Wie erklären Sie sich das?

Heinz Fischer: Ich glaube, das muss man trennen. Zweifellos hatten alle einen Schock, als aus einem 50-Millionen-Land ein Siebeneinhalb-Millionen-Land wurde. Eine andere Frage ist der Übergang von der Monarchie zur Republik. Die Monarchie war bis zum Jahrhundertwechsel, vielleicht sogar bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, unbestritten. Aber der Krieg und vor allem die letzte Phase des Krieges haben das Prestige der Monarchie enorm zerstört. Daher ist dann der Übergang von der Monarchie zur Republik kein riesiges Problem gewesen, obwohl es natürlich überzeugte Monarchisten gab. Und nun der große Sprung zur Gegenwart: Nach meiner Beobachtung ist es so, dass wir ein stabiles Drittel der Bevölkerung haben, das der EU sehr skeptisch gegenüber steht. Ein Drittel hat 1994 beim Referendum mit Nein gestimmt, 66 Prozent haben mit Ja gestimmt. Auch heute ist es ein Drittel und nicht mehr, das sich ernsthaft mit einem Gedanken des Austritts aus der EU beschäftigt, zwei Drittel der Bevölkerung würden einem Austritt aus der EU heftig widersprechen.

Die Österreicher scheinen besonders globalisierungskritisch zu sein. Nutzt oder schadet den Österreichern die Globalisierung?

Ewald Nowotny: Ich kann mit Zahlen untermauern, was Heinz Fischer gesagt hat. Aktuell sind 77 Prozent der Österreicher der Meinung, Österreich soll Mitglied der EU bleiben. Die EU wird als ein gewisses Schutzelement in einer globalisierten Welt gesehen. Der Bevölkerung ist bewusst, dass man bei internationalen Handelsabkommen nur eine Rolle spielen kann, wenn man die EU als Verhandlerin hat. Die EU als Akteurin in einer globalisierten Welt ist ein großes Thema. Zölle spielen ja heute keine große Rolle mehr, heute geht es um sogenannte nicht-tarifarische Handelshemmnisse, also um Regulierungen. Und da geht es um Soziales, um die Umwelt, um die Kultur. Es ist völlig legitim zu fragen: Soll alles global auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht werden? Oder wollen wir eine europäische Identität sichern? Daher ist es wichtig, in der globalisierten Welt die EU als Bewahrerin europäischer Identität zu sehen.

Um sich global durchzusetzen, müsste Europa mit einer Stimme sprechen. Aber tut es das? Ist nicht genau das die Schwäche der EU, dass sie nicht mit einer Stimme spricht?

Heinz Fischer: Das ist sie. Ich war früher optimistischer. Ich habe mir vom Beitritt ehemals kommunistisch regierter Staaten versprochen, dass sie die Werte Europas besonders schätzen und treibende Kräfte in Bezug auf Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit sein werden, weil sie so lange unter Diktaturen gelitten haben. Doch jetzt schauen die Dinge leider etwas anders aus. Daher muss man zugeben, dass sich Europa momentan in einer schwierigeren Phase befindet. Nur schreckt mich das nicht dauerhaft, weil ich glaube, die Entwicklung der Geschichte ist nicht wie eine Autobahn, sie hat immer Ups and Downs.

Könnte es sein, dass Europa am absteigenden Ast ist, weil wir nicht den Biss haben, den die Chinesen haben?

Ewald Nowotny: Es ist sicherlich so, dass der Anteil Europas an der Weltbevölkerung zurück geht. Auch gemessen am Bruttoinlandsprodukt sinkt der Anteil Europas, weil eine ganze Reihe von Entwicklungsstaaten wie China und Indien aufholen, wobei wir im Pro-Kopf-Einkommen noch immer weit vor diesen Staaten liegen. Dass China reicher wird, dass Indien reicher wird, ist positiv. Es schadet Europa nicht. Es ist nicht so, dass wenn einer gewinnt, der andere verliert. In der Ökonomie ist es oft so, dass beide gewinnen können. Es ist für uns gut, wenn China reicher wird, es ergibt sich ein größerer Markt für uns. Natürlich ist politische Bedeutung in einem gewissen Maß mit wirtschaftlicher Bedeutung verbunden, die politische Bedeutung Chinas wird sicher auch zunehmen. Daher ist es wichtig, dass wir die europäische Union haben. Das ist der einzige Anhaltspunkt, um uns als Kontinent zu bewahren.

Viele Menschen fühlen sich von der Rasanz Entwicklung, auch der technologischen, überfordert. Wie kann man sie da mitnehmen?

Heinz Fischer: Es gibt kein Patentrezept zur Bewältigung von Geschichte. Sie ist ein dialektischer Prozess, er findet gleichzeitig auf mehreren Rennstrecken statt. Der Zustand um 1920 war um vieles unhaltbarer als der Zustand um 2020, wo in China die Armut sichtbar zurückgeht, wo Indien mit anderen Mitteln der Politik im Rennen bleiben will, und wo Afrika sich sehr verändert, und wir in Europa um Konkurrenzfähigkeit, Lebensqualität und Demokratie bemüht sind und dabei ja auch gewisse Fortschritte haben. Was mir Sorge macht, ist, wie sehr dieser egoistische Nationalismus an Boden gewinnt. Vor einigen Jahrzehnten hatte man das Gefühl, das ist überwunden. Heute wird wieder viel stärker mit Nationalismus und Abwertung anderer Bevölkerungsgruppen oder Religionen oder Hautfarben gearbeitet. Das macht mir deshalb sorgen, weil es politische Spannungen erzeugt. Und politische Spannungen im Übermaß drängen nach Entladung. Wer Krieg absolut ablehnt und die Lehren aus der Geschichte über die Schrecklichkeit des Kriegs verinnerlicht hat, der wird bemüht sein, einem zugespitzten und egoistischen Nationalismus Grenzen zu setzen. Das ist eine große Aufgabe.

Wir haben nach den Spannungen in der Ersten Republik die Sozialpartnerschaft erfunden. Die steht jetzt auf einem Prüfstand. Muss sie sich erneuern? Ist die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung obsolet?

Heinz Fischer: Wir haben aus den Fehlern der 1. Republik sehr vieles gelernt, eine der Lehren war die Sozialpartnerschaft. Ich bin ein Anhänger der Sozialpartnerschaft, Österreich verdankt ihr viel. Ich werde oft im Ausland gefragt: Wie macht ihr das bloß in Österreich? Ich würde es als einen strategischen Fehler erachten, die Sozialpartnerschaft gezielt zu attackieren oder zu unterminieren. Jemand, der sagt, Reformen sind immer notwendig im Laufe der Zeit, dem stimme ich sofort zu. Aber Reformen, die darauf abzielen, die Sozialpartnerschaft zu schwächen, ihre Grundlagen zu untergraben und sie ins Abseits zu drängen – wer das macht, schadet unserem Land und seiner wirtschaftlichen Entwicklung.

Ewald Nowotny: Da unterstütze ich Heinz Fischer völlig. Es geht um Anerkennung von Menschen und Respekt vor den Menschen, die im Wirtschaftsleben tätig sind, nicht nur auf der Unternehmerseite, sondern auch auf der Arbeitnehmerseite.

Sind wir durch die Sozialpartnerschaft eine Funktionärsrepublik geworden?

Ewald Nowotny: Das ist eine latente Gefahr, man muss achtgeben. Aber die Sozialpartnerschaft hat ja nicht nur eine überbetriebliche Seite, sondern auch eine betriebliche, und das ist keine Funktionärsrepublik, sondern da sind unglaublich geforderte Menschen aktiv. Sie haben Arbeiterkammer und ÖGB hinter sich, um das immanente Ungleichgewicht in der Wirtschaft auszugleichen. Die friedliche Entwicklung in Österreich und in Deutschland ist auf diesen Ausgleich zurückzuführen. In Deutschland gibt es noch viel ausgeprägtere Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer, da sind Mitarbeitervertreter zum Teil sogar im Vorstand, nicht nur im Aufsichtsrat.

Heinz Fischer: Ich höre oft den Vorwurf der Funktionärsrepublik. Aber was ändert sich an der Funktionärsrepublik, wenn ich in der Sozialpartnerschaft oder in der Krankenversicherung anstatt eines Vertreters von Arbeitnehmern, Kunden oder Patienten eine von einem Minister oder Sektionschef ernannte Person sitzen habe? Da wird zwar die Macht verschoben, aber das Wesen der Funktionärsrepublik wird dadurch nicht verändert oder gar verbessert.

Was wünschen Sie der Republik zum 100. Geburtstag?

Ewald Nowotny: Kein Denkmal.Etwas Lebendiges. Das Lebendigste ist das Ausbildungswesen. Der nächste Schritt wäre ein massiver Ausbau der ganztägigen Schulformen als Element der Chancengleichheit, der Integration.Wenn sich die Republik ein großes, schönes Geburtstagsgeschenk macht, dann wäre das aus meiner Sicht im Schulwesen.

Heinz Fischer: Die Republik ist eine lebendige, in Entwicklung befindliche Demokratie, und dieser Demokratie wünsche ich, dass sie pluralistisch, offen und unangetastet bleibt; dass Österreich an friedlichen und gewaltfreien Lösungen festhält, und dass das Prinzip der Menschenwürde wirklich ernstgenommen wird gegenüber allen Menschen, die in Österreich leben.

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