Werden in Österreich wirklich mehr Frauen als Männer getötet?
19 Mal stach der Mann mit dem Messer auf sie ein. Der letzte Stich ging direkt ins Herz. Im Juli dieses Jahres tötete ein Mann in Wien-Ottakring seine Frau und sprang anschließend vom Dach des Wohnhauses. Die Frau hatte keine Chance zu überleben. Der Mann ist heute von der Hüfte abwärts gelähmt.
Es war die 13. Frau, die heuer in Österreich getötet wurde. 2023 sollte die Zahl auf bislang 26 getötete Frauen ansteigen. Laut einer neuen UN-Studie zu Tötungsdelikten war Österreich im Jahr 2021 eines von nur sieben europäischen Ländern, in denen mehr Frauen als Männer Opfer von Tötungsdelikten werden. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Bevölkerungsarme Länder
Etwa, dass Österreich und die anderen sechs Länder (Island, Norwegen, Slowenien, Lettland, Tschechien und die Schweiz) allesamt bevölkerungsarme Länder mit insgesamt wenigen Tötungsdelikten sind. "Je kleiner die statistische Größe, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die Zahlen in einem Jahr umkehren", sagt der Soziologe Paul Herbinger, der am Vienna Centre for Societal Security (Vicesse) zu häuslicher Gewalt forscht. In großen Ländern wie beispielsweise Deutschland ist das nicht so leicht der Fall.
Rückläufige Kriminalstatistik
Ein weiterer Grund ist, dass in Österreich ein Abwärtstrend in vielen Kriminalitätsstatistiken ersichtlich ist, so Herbinger. Heißt: Österreich ist über die Jahrzehnte sicherer geworden. Im öffentlichen Raum gibt es weniger Morde und Raubüberfälle. Banden-, Drogen- und organisierte Kriminalität sind wenig verbreitet. Auch hier spielt wieder die Einwohnerzahl eine Rolle. Kleine Länder sind seltener Drehscheibe der internationalen Kriminalität. Da beispielsweise auch das Mitführen von Tötungswerkzeugen wie Faustfeuerwaffen oder Messern hierzulande eher unüblich ist, ist die Tötungsrate bei Männern im EU-Vergleich sehr niedrig.
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Für Männer ist es in Österreich über die Jahre weniger gefährlich geworden, resümiert Birgit Haller, Sozialwissenschafterin am Institut für Konfliktforschung. Da Frauen jedoch überwiegend im Beziehungskontext getötet werden, profitieren sie kaum von einer allgemeinen Erhöhung der Sicherheit und einem allgemeinen Rückgang der Kriminalität.
Laut einer neuen Studie des UNO-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) waren im Jahr 2021 81 Prozent der weltweit Getöteten männlich. Frauen und Mädchen sind jedoch überproportional von Tötungsdelikten im Beziehungskontext betroffen. 56 Prozent aller weiblichen Tötungsdelikte wurden von Intimpartnern
oder Familienmitgliedern verübt.
In Österreich wurden in dem Jahr 40 Frauen und 25 Männer laut UNODC-Daten getötet.
Tötungsdelikte an Frauen pro Kopf höher
Im Gegenteil: Zwischen 2016 und 2020 war die Kriminalitätsbelastung durch Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner in Österreich für Frauen durchgehend höher als für Männer. Auch absolut gesehen wurden in diesem Zeitraum in Österreich laut einer Studie des Instituts für Konfliktforschung mehr Frauen und Mädchen Opfer von Tötungsdelikten als Männer und Burschen.
Auch nach den aktuellen Daten des UNODC sind in Ländern mit hohen Homizidraten - z.B. Brasilien oder Nigeria - deutlich mehr Männer als Frauen Opfer von Tötungsdelikten. In Ländern mit niedrigen Homizidraten ist das Risiko, Opfer eines Tötungsdeliktes zu werden, gleichmäßiger zwischen Männern und Frauen verteilt.
Wenn also ein Land grundsätzlich sicher ist, gilt das dann nur für Männer? „Ja, das könnte man so sagen“, sagt Dina Nachbaur, Kriminalsoziologin und Leiterin der Gewaltpräventionsberatung beim Verein Neustart. "Aus kriminologischer Sicht ist das Zuhause der gefährlichste Ort für Frauen. Männer haben das höchste Risiko, im öffentlichen Raum verletzt zu werden, von jemandem, den sie nicht kennen", erklärt sie.
Vorsichtige Interpretation der Daten
Bereits mehrmals in der Vergangenheit attestierte das UNODC Österreich mehr Tötungsdelikte an Frauen als an Männern. Im Jahr 2017 war Österreich sogar das einzige von 37 europäischen Ländern mit einem solchen Verhältnis. Die UNODC-Daten müssen laut Expertinnen und Experten allerdings vorsichtig interpretiert werden.
Denn jedes Land melde unterschiedliche Straftatbestände ein. Österreich gilt hier mit fünf gemeldeten Straftatbeständen (§75 Mord, §76 Totschlag, §77 Tötung auf Verlangen, §79 Tötung eines Kindes bei der Geburt und §86 Körperverletzung mit tödlichem Ausgang) als besonders großzügig. "Diese Statistiken sind interessant, weil man sich für ein Land Entwicklungen im Zeiverlauf anschauen kann, aber Vergleiche wischen Ländern direkt anzustellen, ist nicht treffsicher", sagt Birgit Haller. Auch aus dem Frauenministerium von Susanne Raab (ÖVP) heißt es auf KURIER-Nachfrage: „Internationale Vergleiche zu Frauenmorden werfen aufgrund unterschiedlicher Einmelde- und Erhebungsmethoden Fragen auf und greifen vielfach zu kurz.“
Ein wichtiger Schritt wäre laut Nachbaur daher eine behördliche Kriminalstatistik zu Frauenmorden. "Dann kommen die Daten aus erster Hand und man könnte offenlegen, wie welcher Mord definiert wird. Das würde unglaublich zu einer Vergleichbarkeit beitragen."
Was muss sich noch ändern?
Insgesamt sind sich die Expertinnen und Experten einig, dass sich in Österreich in den letzten Jahren viel im Gewaltschutz getan hat. „Wir haben einen breit aufgestellten Gewaltschutzapparat, der auch hervorragende Arbeit leistet", findet Soziologe Herbinger. "Wem es wirklich schlecht geht, der bekommt in Österreich sehr viel Hilfe." Frauen, die noch nicht akut von Mord bedroht, aber trotzdem von Gewalt betroffen sind, würden jedoch häufig noch zu kurz kommen.
Herbinger fordert zudem einen gesellschaftlichen Wandel: eine gerechte Verteilung von Erwerbsarbeit und Löhnen zwischen den Geschlechtern. "Wir haben immer noch eine extrem ungleiche Geschlechterordnung. Wir gehen das Problem des Patriarchats selten systematisch an, sondern betreiben Symptombekämpfung und Symbolpolitik."
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Auch Nachbaur appelliert, Gewaltschutz breiter zu denken. "Gewaltschutz braucht auch eine Reihe von gesellschaftlichen Maßnahmen. Wesentlich sind zum Beispiel leistbares Wohnen und umfassende Kinderbetreuung, damit eine Frau eine realistische Chance hat, sich aus einer Gewaltbeziehung zu lösen. Dazu braucht sie das Vertrauen, dass sie es als Alleinerzieherin schaffen kann."
Denn der gefährlichste Moment für eine Frau in einer Gewaltbeziehung ist laut Expertinnen und Experten, wenn sie sich trennen möchte. Nachbaur: "Männer töten nicht, um sich aus einer Beziehung zu befreien, sondern wenn sie das Gefühl haben, die Kontrolle über ihre Partnerin zu verlieren."
So auch der 35-jährige Ehemann in Wien-Ottakring. Er wurde vergangene Woche zu 20 Jahren Haft verurteilt. "Sie war die Liebe seines Lebens", hatte der Verteidiger zu Prozessbeginn erklärt. Doch die 28-Jährige habe sich in einen anderen Mann verliebt und seinen Mandanten verlassen wollen. Da habe dieser zugestochen.
Frauenhelpline
0800 222 555
Österreichweit und 365 Tage im Jahr erreichbar. Der Anruf ist kostenlos, anonym und mehrsprachig möglich. Man erhält hier Erst- und Krisenberatung sowie rasche Hilfe in Akutsituationen.
Onlineberatung „HelpChat“
Steht täglich von 18-22 Uhr und jeden Freitag von 9-23 Uhr für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen zur Verfügung. www.haltdergewalt.at
Männernotruf
0800 246 247
Anlaufstelle bei Beziehungsproblemen, Gewalterfahrung, Betretungsverbot, psychischen Problemen oder Suizidgedanken
Notruf der Polizei
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