Birgit Haller, Sozialwissenschafterin am Institut für Konfliktforschung, begründet das unter anderem mit dem Auftreten der Politik. „Wenn eine Frau in Österreich ermordet wird, tritt die Regierung in den seltensten Fällen geeint auf. Auf Pressekonferenzen erfolgen zwar Ankündigungen, die aber oft schwammig sind.“ Außerdem dauere es oft lange, bis Maßnahmen umgesetzt werden.
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Erst am Mittwoch lud die Regierung zu einem Medientermin über Gewaltambulanzen. Einen konkreten Starttermin konnte Justizministerin Alma Zadić (Grüne) am Mittwoch – ein Jahr, nachdem die Maßnahme angekündigt worden ist – noch nicht nennen.
In Italien ist die Regierung nach Bekanntwerden des Mordes an Giulia geschlossen aufgetreten und hat härtere Strafen für Täter verkündet. Der Gesetzesentwurf beinhaltet eine verstärkte Überwachung von Männern, die sich häuslicher Gewalt schuldig gemacht haben, sowie eine Personalaufstockung bei der Entgegennahme von Notrufen.
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„Dieser starke Auftritt kann dafür sorgen, dass viele Leute auf die Straße gehen“, so Haller. In Italien gibt es zudem viele einzelne Frauen, die sich für mehr Engagement im Kampf gegen Gewalt an Frauen einsetzen, etwa die Schwester der ermordeten Studentin oder das bekannte Model Chiara Ferragni. In Österreich gebe es zwar einige dieser Leitfiguren – wie zuletzt die Bewegung „Ni Una Menos“–, sie schaffen es aber nicht in den Mainstream, sagt die Sozialwissenschafterin.
Abstumpfungseffekt
Einen weiteren Grund für das österreichische Schweigen zu Femiziden verortet die Expertin in der immer schon gering ausgeprägten politischen Partizipation. „Österreich hat ja auch keine Streikkultur, jahrelang fiel nicht einmal eine Streiksekunde pro Person an“, so Haller.
Dazu kommt, dass die Menschen in Italien wissen, wofür sie auf die Straße gehen: Mehr Schutzmaßnahmen für Frauen und härtere Strafen für Täter. „In Österreich dagegen habe ich nicht das Gefühl, dass die meisten Menschen konkrete Schritte benennen können, wie Femizide verhindert werden können“, sagt der Medienpsychologe Jörg Matthes.
Stattdessen sei Österreich von einem Abstumpfungseffekt geprägt. „Abstumpfung entsteht immer dann, wenn ich keine Möglichkeit sehe, etwas zu verändern“, sagt Matthes. Bekämpfen könne man das nur, indem man den Menschen konkrete Lösungsvorschläge aufzeige. Und dafür seien unter anderem die Medien zuständig.
„Sohn des Patriarchats“
Es brauche aber mehr als die reine Berichterstattung, sagt Matthes. „Wir befinden uns im Dauerkrisenmodus. Die schlechten Nachrichten lösen einander ab.“ In Italien aber gebe es Akteure, die „den Ball zurückspielen“ und somit die Möglichkeit zur Anschlussberichterstattung bieten, sagt Matthes.
Beispiele dafür sind im Fall von Giulia Cecchettin etwa Künstlerinnen, die ihr Programm für eine Schweigeminute unterbrochen haben. Oder Giulias Schwester Elena, die mit ihren Worten „Filippo (der mutmaßliche Mörder, Anm.) ist kein Monster, aber ein Sohn des Patriarchats“ den Nerv der Zeit getroffen zu haben scheint.
Die Berichterstattung in Italien ist stark von Einzelfalldarstellungen geprägt. Das wecke Interesse und emotionalisiere, sagt Matthes. „Aber es besteht die Gefahr, dass so die nüchterne Betrachtung des strukturellen Problems ausbleibt.“
Kipppunkt nicht erreicht
In Italien scheinen die Menschen – trotz der Einzelfalldarstellungen – das Problem erkannt zu haben. „Einzelschicksale wurden miteinander verbunden. Das hat dazu geführt, dass auch die breitere Mehrheit verstanden hat, dass es nicht um die einzelnen Frauen geht, sondern um das große Ganze“, sagt Matthes.
An diesem Kipppunkt sei Österreich noch nicht angelangt.
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