"Es gibt das bewährte Instrument des Kompromisses"
KURIER: Politik steckt in einer tiefen Vertrauenskrise – was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen?
Wolfgang Sander: Für diese Vertrauenskrise gibt es mehrere Gründe. Viele Menschen wollen sich heute nicht mehr längerfristig in großen Organisationen binden. Damit haben neben Parteien auch Kirchen, Gewerkschaften und andere Verbände zu kämpfen. Was die traditionellen Parteien betrifft, so kommt dazu, dass sie ihre Wurzeln in sozialen Milieus haben, die im 19. Jahrhundert entstanden sind: Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus stammen aus dieser frühen Phase der Demokratie. Aber die entsprechenden Milieubindungen sind verschwunden oder zumindest stark zurückgegangen. Ein anderer Punkt ist die immer weiter voranschreitende Verrechtlichung. Das Rechtssystem wird immer komplexer – und damit auch die politischen Entscheidungsprozesse. Aber gleichzeitig steigen, auch durch die schnellen Informationsmöglichkeiten, die Erwartungshaltungen. Die Regierung soll schnell liefern, wenn es ein Problem zu lösen gilt – aber die Lieferprozesse werden komplizierter. Und ein letzter Punkt: Es zeigt sich, dass die sozialen Medien, von denen sich viele einen Zugewinn an Partizipation erwartet haben, doch sehr negative Effekte für die Demokratie haben.
Die traditionellen Parteien haben ihre Wurzeln in sozialen Milieus, die im 19. Jahrhundert entstanden sind.
Tatsächlich haben diese neuen Medien aber auch eine Demokratisierung der Kommunikation gebracht, kann man das nicht auch so sehen?
Ja, wenn man sehr optimistisch ist. Ich bin da skeptischer. Hinter diesen Medien stehen ja große Wirtschaftsunternehmen mit eigenen Interessen und mit erheblicher ökonomischer Macht. Natürlich, ich kann mir einen Account in einem sozialen Medium zulegen und weitgehend schreiben, was ich will – aber wen ich dort treffe und erreiche, das reguliert dann weitgehend ein Algorithmus, der strukturell Filterblasen und Echokammern fördert. Die Folge ist eine zunehmende Fragmentierung, wenn nicht Zerstörung demokratischer Öffentlichkeit. Ich glaube, wir müssen und fragen, wie man eine politisch-demokratische Kontrolle über diese Systeme etablieren kann. Nicht im Sinne von Zensur, sondern von Regulierung. Die EU versucht ja derzeit, in dieser Hinsicht Fortschritte zu erreichen.
Was kann nun politische Bildung diesen Entwicklungen entgegensetzen?
Politische Bildung erbringt eine Leistung für die Demokratie als Ganzes, weil sie Menschen darin bestärkt, sich politisch zu beteiligen. Wobei Beteiligung nicht Engagement im Rahmen einer Partei bedeuten muss, sie beginnt schon mit dem Interesse an Politik, der aufmerksamen Beobachtung und der begründeten Urteilsbildung. Darüber hinaus geht es freilich auch um die Fähigkeit, aktiver politisch handeln zu können, wenn man das möchte.
Muss politische Bildung auch Medienbildung miteinschließen – Stichwort soziale Medien?
Schon, wenn man Medienbildung nicht zu kurzschlüssig denkt und nicht erwartet, die Leute bräuchten nur mehr Medienkompetenz, dann würden Echokammern, Hatespeech u. ä. verschwinden. Für politische Medienbildung ist die kritische Reflexion der strukturellen Probleme digitaler Medien wichtig, die wir schon angesprochen haben.
Ist die Vertrauenskrise der Politik nicht vor allem eine der Parteiendemokratie? Und könnte demnach der Ausbau direktdemokratischer Elemente eine Art Frischzellenkur für unsere Demokratien bedeuten?
Ja, sie ist in erheblichem Maße eine Krise der Parteiendemokratie. Denn man kann sicher nicht sagen, dass das politische Interesse insgesamt immer weiter schwindet. Gerade derzeit gibt es wieder ein starkes Interesse an Politik. Ich sehe allerdings nicht so recht, dass mehr direkte Demokratie eine Lösung darstellt. Erstens hat sich gezeigt, dass solche Partizipationsräume vorwiegend von Menschen genutzt werden, die über entsprechendes kulturelles Kapital und Kompetenzen verfügen. Mehr Bürgerbeteiligung kann also sehr selektiv wirken – es sind die dabei, die ohnedies immer schon dabei waren. Zweitens kann verstärkte Bürgerbeteiligung Entscheidungsprozesse noch einmal schwieriger machen. Das verstärkt dann aber wiederum den Eindruck, die Politik sei nicht handlungsfähig. Wenn man aber ganz auf direkte Demokratie im Sinne von Volksabstimmungen setzt, dann ist das immer nur bei klaren Ja/Nein-Alternativen denkbar.
Die brauchen Parteien aber auch …
… die können differenzierte Programme anbieten …
… aber letztlich gilt immer: ein Drittes gibt es nicht …
Aber es gibt ja auch das bewährte Instrument des Kompromisses, das im politischen Alltag oft entscheidend ist – und Kompromisse können Sie in Volksabstimmungen gar nicht schließen. Hinzu kommt: Die Beteiligung bei Volksabstimmungen ist oft nicht höher als bei Wahlen. Ich will damit Volksabstimmungen nicht generell ablehnen, sie können in bestimmten Fällen sinnvoll sein – aber sie sind kein Allheilmittel.
Apropos Kompromiss: Befürworten Sie politische Systeme, wo es nach Wahlen meistens zu Koalitionen kommt und keine Partei allein regieren kann?
Tendenziell ja. Wir sehen ja, dass Länder wie die USA oder Großbritannien mit Wahlsystemen, die Mehrheitsbildung ohne Koalitionen begünstigen, zu stärkeren Polarisierungen neigen. Und das macht es noch schwieriger für neue Parteien, sich zu etablieren.
Wie sehen Sie die Zukunft der sogenannten Volksparteien? Ist deren Zeit unwiederbringlich vorbei – oder könnte es auch wieder einen Pendelschlag in die andere Richtung geben?
Das dürfte davon abhängen, ob sie den Verlust ihrer traditionellen Milieubindungen produktiv verarbeiten können. Also ob sie sich anderen Milieus öffnen und neue Kommunikationsformen finden. Für den durchschnittlichen Bürger gibt es wahrscheinlich nichts Langweiligeres als die übliche Ortsverbandssitzung einer Partei oder einen Parteitag. Teilweise wird in Parteien ja auch über neue und unterschiedliche Formen der Bindung an eine Partei nachgedacht, wie etwa Gastmitgliedschaften, Mitwirkung ohne Mitgliedschaft etc. Dafür bieten die digitalen Medien tatsächlich auch neue Möglichkeiten.
Das heißt, sie sind vorsichtig optimistisch …
Ich sehe jedenfalls nicht, was die Parteien als Stützen demokratischer politischer Systeme substituieren könnte. Es ist nun einmal so: Das Volk kann nicht selbst regieren, auch dann nicht, wenn es permanent Volksabstimmungen geben würde. Man braucht also irgendwelche stabilen Vorfeldorganisationen, die politische Interessen bündeln, und das leisten die Parteien.
Die von Ihnen postulierte Öffnung der Parteien, die Hinwendung zu neuen Milieus, führt allerdings auch dazu, dass die Parteien einander immer ähnlicher und damit austauschbarer werden – was wiederum Wähler eher abschreckt …
Das ist tatsächlich eine Gefahr. Aber was wäre das Patentrezept dagegen? Eine Möglichkeit wäre: Die Parteien werden einander ähnlicher, aber die Personen nicht. Parteien personalisieren sich stärker. Eine andere Variante wäre, dass sich Parteien nicht mehr entlang der überkommenen Frontlinien unterscheiden, sondern sich an gegenwärtigen Themen neu formieren. Bei vielen Themen laufen ja heute manche Fronten mehr innerhalb der Parteien als zwischen den Parteien. Das ist aber derzeit nur Spekulation.
Zurück zur politischen Bildung: Derzeit ist sie Teil des Geschichtsunterrichts – sollte es ein eigenes Unterrichtsfach geben?
Ich denke schon. Natürlich gehört die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer - Geschichte, Sozialkunde, Geografie, Wirtschaftskunde - auch zusammen. So sollten die Lehrpläne zwischen ihnen gut abgestimmt sein. Aber eine Aufwertung der politischen Bildung durch ein eigenes Unterrichtsfach wäre tatsächlich sinnvoll. Viele Lehrer des Verbundfachs mit Geschichte, die früher nur Geschichte studiert haben, fühlen sich zurecht durch die Themen politischer Bildung überfordert. Zudem ist es nicht wünschenswert, wenn die gewiss notwendige Aufwertung politischer Bildung in einem gemeinsamen Fach zu Lasten der Geschichte gehen muss.
Was müsste ein solcher Lehrer für politische Bildung dann für eine Ausbildung haben?
Wenn man die Wirtschaft bei der Geografie belässt, dann ginge es bei einem eigenen Fach für politische Bildung um ein Studium der Politikwissenschaft und der Soziologie, plus der entsprechenden Fachdidaktik.
In diesem Zusammenhang gibt es freilich die Befürchtung, dass ein solches Fach mit politischer Indoktrination verbunden sein könnte, es besteht also eine Art Ideologieverdacht …
Ich glaube, diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn die Ausbildung von Lehrern, die politische Bildung unterrichten sollen, nicht gut genug ist, zum Beispiel weil sie dieses Fach gar nicht studiert haben. Dann könnten sie leicht dazu tendieren, ihre eigenen politischen Präferenzen zu vermitteln. In der Didaktik der politischen Bildung haben wir mittlerweile Standards, die genau das verhindern sollen. Es gibt den Beutelsbacher Konsens von 1976 – aus einer hochpolarisierten Zeit –, und der unterscheidet sehr klar zwischen der persönlichen Auffassung der Lehrer und ihrer professionellen Aufgabe. Die wichtigsten Punkte sind: ein Indoktrinationsverbot; und ein Kontroversitätsgebot – was in Politik und Wissenschaft kontrovers ist, muss auch im Unterricht als kontrovers dargestellt werden. Wenn man sich daran hält, ist die persönliche politische Präferenz des Lehrers zweitrangig.
Politische Bildung in anderer Weise betreiben ja auch Partei-Thinktanks. Wie sehen Sie deren Rolle – was können die in der heutigen Zeit leisten?
Sie sind wichtige Träger politischer Bildung, nicht zuletzt, weil sie staatlich finanziert sind. Eine reine Marktorientierung ist außerhalb der Schule bei der politischen Bildung schwer vorstellbar. Zweitens können parteinahe Einrichtungen wichtige Brücken zwischen der jeweiligen Partei und der Gesellschaft bzw. bestimmten Milieus sein - nicht einfach im Sinne von Werbung für die Partei, sondern von Ins-Gespräch-Kommen über zentrale Zeitfragen. Das kann auch für die Partei ein Fenster sein, um Rückmeldungen von Menschen zu bekommen, zu denen sie normalerweise wenig Zugang hat.
Wolfgang Sander, geb. 1953 in Frankfurt/M., ab 1998 Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 2008–2010 Professor für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Wien; Herausgeber des „Handbuch politische Bildung“ der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung.
Sander war dieser Tage auf Einladung der Politischen Akademie der ÖVP, die ihren 50. Geburtstag feierte, bei einer Veranstaltung zu Gast in Wien.
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