Politologe: "Bringt nichts, sich nur zu echauffieren"
KURIER: Sie haben kürzlich bei einer Veranstaltung zur „Bedeutung der bürgerlichen Mitte“ referiert. Was kann man denn heute noch darunter verstehen?
Jens Hacke: Die Mitte ist immer relational zu verstehen, die können wir soziologisch leichter bestimmen – sie gilt als Garant für gesellschaftliche Stabilität. In Kombination mit „bürgerlich“ kommen bestimmte Werte hinzu. Das hängt davon ab, was für einen Wertekanon eine Gesellschaft ausbalanciert. Solche Werte sind immer umstritten, auf die muss man sich einigen. Insofern ist „Bürgerlichkeit“ ein normativer Begriff, der eine Zielvorstellung von liberalen Demokratien beschreibt. Dementsprechend versuchen verschiedene Parteien diese Mitte mit ihren Werten zu besetzen.
Das heißt, die bürgerliche Mitte ist kein Monopol christdemokratisch-konservativer Parteien, mit denen der Begriff ja meistens assoziiert wird.
Es ist klar, dass diese Parteien darauf abzielen – aber in Deutschland würde das etwa auch die FDP für sich in Anspruch nehmen, auch weite Teile der Grünen und ebenso der Sozialdemokratie. Herbert Wehner (SPD-Fraktionschef 1969–1983; Anm.) hat einmal sinngemäß gesagt, adressiert an die CDU: Die Mitte ist so breit, da können Sie uns nicht rausdefinieren.
Bei Wahlen in Deutschland wie Österreich gibt es oft keine linke Mehrheit – allerdings ist die dementsprechend vorhandene sogenannte „bürgerliche“ Mehrheit nur unter Einschluss weit rechts stehender Parteien wie der AfD oder FPÖ realisierbar. Wie sehen Sie dieses Dilemma?
Das ist ein großes Dilemma. Wir sehen das in vielen europäischen Ländern, das rechtspopulistische Parteien immer stärker nach der Mitte greifen und sich auch durch gezielte Begriffspolitik bürgerlich-konservativ positionieren. Das macht den Wertkonflikt noch einmal stärker. CDU oder ÖVP etwa müssen da sehr darauf achten, wie sie noch eine Wertunterscheidung treffen können, um sich vom rechten Lager abzugrenzen. Gleichzeitig sind starke rechtspopulistische Parteien Indikatoren dafür, dass etwas in der liberalen Demokratie nicht richtig funktioniert. Es bringt ja nichts, sich nur moralisch über diese Parteien zu echauffieren.
Wie sollen die klassisch konservativen Parteien mit den Rechtspopulisten umgehen? Halten Sie sie für koalitionsfähig?
Nein, ich halte sie ganz und gar nicht für koalitionsfähig. Die Herausforderung besteht darin, sich nicht in diese rhetorische Eskalationslogik zu begeben. Und: sobald es gelingt, Sachthemen zu politisieren, kann man die Rechtspopulisten kleiner halten. Umgekehrt profitieren die Rechtspopulisten von einer aufgebrachten Lage, in der Themen eine Rolle spielen, die gar nichts mit den tatsächlichen Problemen zu tun haben.
Wenn aber rechte Mehrheiten demnach nicht realisiert werden sollten, bleiben für die Christdemokraten als Koalitionspartner nur Parteien links der Mitte, allenfalls liberale …
Wir bewegen uns tatsächlich in eine Zeit der Dreierbündnisse. Die CDU unter Friedrich Merz hält erkennbar den Gesprächsfaden zu den Grünen – aber es wird wohl nicht für eine Zweierkoalition reichen. Die Alternative könnte also lauten: Jamaika oder Ampel (CDU, Grüne, FDP oder SPD, Grüne, FDP; Anm.).
Wobei man ja bereits an der jetzigen Ampelregierung sieht, dass das keine einfache Sache ist.
Das hat viel damit zu tun, dass wir überlappende Krisen haben: der russische Angriff auf die Ukraine, die Wirtschafts- und Energiekrise. Dazu kommt der leicht hypertrophe Anspruch, eine „Fortschrittskoalition“ zu bilden – wobei jede Partei etwas anderes unter „Fortschritt“ verstand. Aus Machträson dürfte die Koalition zwar halten, aber keinesfalls harmonisch und mit großem Profilierungsdruck der einzelnen Teile. Und ab den nächsten Landtagswahlen im Herbst (Bayern, Hessen; Anm.) wird man sehen, dass der Blick bereits auf die kommende Bundestagswahl (2025; Anm.) gerichtet ist.
Laut derzeitigen Umfragen gibt es – ohne AfD – weder eine klare rechte noch eine klare linke Mehrheit … Ist das nicht auch demokratiepolitisch ein Problem?
Das ist es. Ich würde nur davor warnen, Umfrageergebnisse zur Mitte der Legislaturperiode für bare Münze zu nehmen. Die knapp 20 Prozent für die AfD scheinen mir recht unwahrscheinlich. Die AfD hat ja noch nie einen weiterführenden Gedanken eingebracht, sondern hat immer nur durch negative Affekte auf sich aufmerksam gemacht.
In den USA sehen wir ein anderes Phänomen: nämlich dass eine radikale Gruppe innerhalb einer Partei diese gleichsam kapert – wie die Trumpianer bei den Republikanern. Könnte das auch in Europa passieren?
Für die CDU war es so gesehen ein Glück, dass mit Friedrich Merz ein prononciert Konservativer und Wirtschaftsliberaler die Partei übernommen hat. Damit wurde einschlägigen Bestrebungen, etwa seitens der Werteunion, der Wind aus den Segeln genommen. Wäre etwa Annegret Kramp-Karrenbauer Parteichefin geblieben und hätte den Merkel-Kurs fortgesetzt, hätten sich die Unzufriedenen in der Union vermutlich eher radikalisiert.
Ein Experimentierfeld für die Frage, was denn als „bürgerlich“ gelten kann, ist das Europäische Parlament. Da gibt es ja gerade bei der EVP immer wieder Diskussionen, wer dazugehören darf oder soll. So wurde der ungarische FIDESZ faktisch ausgeschlossen, umgekehrt gibt es Bestrebungen, die tschechische ODS oder die italienischen „Fratelli“ von Giorgia Meloni an Bord zu holen …
Das muss man sich von Fall zu Fall ansehen. Ein entscheidender Faktor ist die neue Kalte-Kriegslage gegenüber Russland. Diese macht ein Bekenntnis zur EU auch für jene leichter, die ansonsten tendenziell nationaler eingestellt waren.
Gerade diesbezüglich hat ja Meloni ganz die EVP-Linie mitgetragen. Wäre also eine Zusammenarbeit denkbar? Und war es umgekehrt richtig, sich von Viktor Orbán zu trennen?
Ich bin bezüglich der Italiener optimistischer als bezüglich der Ungarn. Aber da reden wir sowieso über längere Zeithorizonte.
Sie haben vor vier Jahren in der Zeit geschrieben, die „Grünen haben als Erste verstanden, dass es darum geht, Postmaterialismus und Liberalismus zu versöhnen“. Der Grundtenor war damals: die Grünen sind die neuen Bürgerlichen. Sehen Sie das heute auch noch so?
Ja, die Grünen sind in vielerlei Hinsicht die neuen Bürgerlichen. Sie sind keine prononciert linke Partei. Es gibt Differenzen zu den Konservativen in Fragen der Identitätspolitik, dort, wo es um Gender oder um Postkolonialismus geht. Aber sie sind keine sozialistische Partei – sie hatten immer Verbindung zur Marktwirtschaft. Umgekehrt hat es bei der CDU seit den 90er-Jahren programmatische Überlegungen zur ökologischen Marktwirtschaft gegeben – die sich im Mainstream der Partei aber nie durchsetzten. Das Freiheitsverständnis der Grünen, das sich stark auf unsere Lebensgrundlagen bezieht, ist außerdem ein anderes als das der klassischen Liberalen, die eher den hedonistischen Selbstverwirklicher im Blick haben. Programmatisch haben sie meines Erachtens also kaum Probleme – eher dadurch, dass sie bisweilen sehr moralinsauer argumentieren.
Ist es vielleicht die Crux der Christdemokraten, dass sie so gegensätzliche Positionen wie konservative, christlich-soziale und liberale unter einen Hut bringen müssen?
Das ist natürlich das Wesen einer Volkspartei, dass sie in mehrere Richtungen anschlussfähig und keine reinen Klientelparteien sind. Das gilt aber auch für Grüne und Liberale. Aber große Parteien wie die Unionsparteien haben sicher eine noch größere, auch soziale Bandbreite. Die Grünen etwa sind eine stark akademikergeprägte Partei, wodurch sie bisweilen zu schulmeisternd daherkommen. Die Rhetorik eines Habeck (Robert, Wirtschaftsminister; Anm.) ist nicht unbedingt Bild-Zeitungskompatibel. Deswegen wirken sie auch ziemlich hilflos, wenn ihnen die Dinge um die Ohren fliegen.
In einem anderen Kommentar auf Deutschlandradio von Anfang Mai haben Sie von der Bedrohung von „Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand“ gesprochen und dabei auch Parallelen zu den 30er-Jahren gezogen. Ist das nicht ein wenig alarmistisch?
Ich wollte nur darauf hinweisen, was passieren kann, wenn Demokratien die Kraft verlieren, ihre Gegner zu bekämpfen und wenn sie den Verfassungskonsens nicht pflegen. Sie haben recht, wir sind von Zuständen wie in den 30er-Jahren weit entfernt. Gleichwohl merken wird doch in den letzten sechs bis acht Jahren, dass die liberale Demokratie nicht so selbstverständlich ist, wie wir dachten. Und dass es für eine „wehrhafte Demokratie“ darauf ankommt, die Grundlagen, von denen der demokratische Staat lebt, zu stärken. Das geschieht vor allem über Bildungspolitik und eine engagierte Sozialpolitik. Dazu gehört auch eine klare Einwanderungspolitik: dass man sagt, wer bei uns wohnt, hat sich an Regeln zu halten – dann sind Neubürgerinnen und Neubürger willkommen. Wir müssen nicht über Kopftücher reden – aber es gibt Werte, die von jedem akzeptiert werden, der hier eine Staatsbürgerschaft anstrebt. Da waren wir zu zögerlich. Es geht also darum Pflöcke einzuschlagen und zu sagen: hier stehen wir, und so soll unsere Gesellschaft auch in Zukunft aussehen.
Jens Hacke
geb. 1973 in Bonn; Dissertation bei Herfried Münkler, 2020 bis 2023 Professur für Vergleichende Politische Kulturforschung an der Universität der Bundeswehr München, lehrt derzeit Politische Theorie an der Humboldt-Universität Berlin; letzte Buchveröffentlichung: „Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten“ (Hamburg 2021).
Symposium
Hacke war kürzlich Referent beim Symposium „Die Bedeutung der bürgerlichen Mitte“ an der Politischen Akademie der ÖVP in Wien. Am Rande dieser Veranstaltung traf ihn der KURIER zum Gespräch.
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