"Er war kein Diktator": Wo sie Dollfuß in Ehren halten
Warum wird dieses kleine, grüne Häuschen, fernab der Zivilisation, videoüberwacht? Einen Hinweis liefert die Gedenktafel am Eingang. Es handelt sich um das Geburtshaus von Engelbert Dollfuß, Bundeskanzler von 1932 bis 1934. In konservativeren ÖVP-Kreisen gilt er als Held, für SPÖ-Nahe war er ein Faschist. Dass die Gemeinde Texing, Bezirk Melk, im Geburtshaus 1998 ein Dollfuß-Museum einrichtete, wurde lange relativ wenig kritisiert.
Bis Gerhard Karner (ÖVP) im Dezember 2021 Innenminister wurde. Er war zuvor Texinger Bürgermeister, also auch Museumschef. Plötzlich galt das Museum als Melker Pendant zum Hitler-Geburtshaus in Braunau. Die SPÖ-Jugend demonstrierte, Historiker monierten: Es handle sich um eine unkritische Dollfuß-Gedenkstätte.
Dollfuß-Museum
Das Dollfuß-Museum in Texing, dessen Geburtshaus, wird umgestaltet. Bis dahin gilt: Eintritt verboten.
Dollfuß-Museum
Karoline Dollfuß wohnt im Bauernhaus nebenan.
Dollfuß-Museum
In ihrem Vorzimmer hängen ein Dollfuß-Porträt - und einige Ehrenurkunden.
Dollfuß-Museum
Eine Ehrentafel ziert den Eingang des Museums.
Dollfuß-Museum
Das kleine Häuschen wird videoüberwacht.
"Man muss auch das Gute sehen"
Die Gemeinde schloss das Museum. „Rein dürfen Sie nicht“, bestätigt Karoline Dollfuß dem KURIER und lächelt, obwohl sie beim Kochen gestört wurde. Sie wohnt im Bauernhaus nebenan. Ihr Vorzimmer zieren ein Porträt und Ehrenurkunden ihres Vorfahren Engelbert. „Jeder Mensch hat Fehler, aber man muss auch das Gute sehen“, sagt sie – und ärgert sich über die Demonstranten. Nun müssten „die Krimineser“ das Grundstück überwachen.
Der Verein MERKwürdig soll das Museum im Auftrag der Gemeinde Texing überarbeiten. Nach dem ersten Infoabend mit 60 Anrainern meldete sich ein verärgerter Katholik beim KURIER – der Verein hatte beim Gruppenfoto das Kreuz abgehängt.
Verwandte ziehen "rote Linie"
Dollfuß, geboren 1892, war der uneheliche Sohn von Josef Wenninger und Josepha Dollfuß. Die Mutter und das Kind lebten nur neun Monate im Geburtshaus in Texing. Josepha heiratete dann Leopold Schmutz. Die weitere Kindheit brachte er in der Nachbargemeinde Kirnberg zu, im Schmutz-Gebäude. Das Bauernhaus wurde 1661 errichtet. Darauf weist eine Schnitzerei im rustikalen Deckenbalken im Wohnzimmer hin. Hier leben heute Josefa und Engelbert Schmutz.
Engelbert ist der Urenkel von Josepha Schmutz. Er besitzt zahlreiche Dollfuß-Erbstücke, die seine Frau liebevoll auf einer Kommode angeordnet hat: Dollfuß-Urkunden, Dollfuß-Stammbäume, Dollfuß-Totenmaske. Auch dem Museum hat die Familie Erbstücke geliehen. Sollen sie dort bleiben?
Dollfuß-Haus in Kirnberg
Dollfuß wuchs in Kirnberg auf. Dort leben heute Josefa und Engelbert Schmutz – mit vielen Dollfuß-Erbstücken.
Dollfuß-Haus in Kirnberg
Der Stammbaum der Familie Dollfuß ist in den alten Büchern präzise dokumentiert.
Dollfuß-Haus in Kirnberg
Wie auf einem kleinen Altar, wurden die Erbstücke auf zwei Kommoden angeschlichtet.
Dollfuß-Haus in Kirnberg
XXL-Dollfuß-Stammbaum
Dollfuß-Haus in Kirnberg
Dollfuß-Totenmaske
Dollfuß-Haus in Kirnberg
altes Sammelstück
Dollfuß-Haus in Kirnberg
Dollfuß-Gedenktafel beim Hauseingang
Dollfuß-Haus in Kirnberg
Dollfuß-Fotoalbum
Dollfuß-Haus in Kirnberg
Dollfuß-Fotoalbum
Josefa Schmutz hätte sich bereits ein konkreteres Konzept von MERKwürdig erwartet. Das alte Museum sei „komplett neutral und gut gemacht“ gewesen. „Ich habe aber kein Problem damit, wenn es umgebaut wird. Wenn wir es so lassen, haben wir immer den Angriffspunkt der Heldenverehrung, obwohl das nicht der Fall ist“, sagt Engelbert Schmutz.
Klar ist: Es gibt eine rote Linie, ab der die Familie ihre Erbstücke dem Museum nicht mehr leiht. „Wenn der Eindruck vermittelt würde, dass Dollfuß ein Diktator war, dann ist eine Grenze überschritten. Das war er nicht“, sagt Engelbert Schmutz. Anschuldigungen wie „Austrofaschismus“ seien nicht gerechtfertigt, da sie nicht stimmen würden, sagt Josefa. Man wünsche sich weiterhin ein „neutrales, historisch korrektes Museum“.
Diktator oder Faschist?
Aber war Dollfuß wirklich nur Kanzler eines „christlichsozialen Ständestaats“, wie ÖVP-Kreise gerne betonen? Die Mehrheit jener Historiker, die Österreichs Epoche zwischen 1933 und 1938 beforscht haben, bezeichnet ihn als Diktator oder Faschist. Historiker Emmerich Tálos konstatiert etwa, Dollfuß habe ein „austrofaschistisches Herrschaftssystem“ errichtet. Sein Vorbild: Diktator Benito Mussolini, „Führer“ der italienischen Faschisten.
Werdegang
Engelbert Dollfuß wurde 1892 im niederösterreichischen Texing geboren. Der Theologe startete 1931 als Landwirtschaftsminister der Christlichsozialen Partei politisch durch, 1932 wurde er Bundeskanzler. Im März 1933 nutzte Dollfuß eine Geschäftsordnungspanne, um das Parlament auszuschalten.
Ermordung
Bei einem Putschversuch der Nazis wurde Dollfuß im Juli 1934 angeschossen – und verblutete im Kanzleramt.
Dollfuß nutzte am 4. März 1933 einen Fehler in der Geschäftsordnung, um das Parlament auszuschalten. Danach regierte er autoritär, schaltete den Verfassungsgerichtshof aus, erließ ein Versammlungsverbot. Polizisten bewachten das Parlament, hinderten die Opposition an der Arbeit. Im Februar 1934 kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen: Die christlichsoziale Heimwehr kämpfte gegen den sozialdemokratischen Schutzbund. Dollfuß ließ danach neun Schutzbündler hinrichten, die sozialdemokratische Partei wurde verboten, viele ihrer Funktionäre inhaftiert.
Gleichzeitig stemmte sich Dollfuß gegen die Nationalsozialisten. Im Juli 1934 wurde er von ihnen ermordet. Auf Dollfuß folgte Parteikollege Kurt Schuschnigg, ehe Adolf Hitler Österreich 1938 ins Dritte Reich eingliederte.
Der gute Dollfuß
Man müsse Dollfuß’ Vorgehen, wie das Ausschalten des Parlaments, im Kontext der Zeit sehen, sagt Josefa Schmutz: „Es war Bürgerkrieg, und die andere Seite war auch nicht zimperlich.“ Die Machtübernahme sei optionslos gewesen: „Irgendwas hat er machen müssen, damit er diese Unruhen einbremst – obwohl die Todesstrafe die falsche Entscheidung war.“ Dollfuß sei jedenfalls naiv gewesen: „Er wollte Priester werden, er wollte in jedem das Gute sehen. Er hat möglicherweise gar nicht realisiert, von wie vielen falschen Leuten er umgeben war.“
Josefa sieht vor allem gute Seiten an Dollfuß: dass er die Nazis verhindern wollte, dass er einen Österreich-Patriotismus geschaffen habe – „damit Österreich als souveräner Staat erhalten bleibt“. Zudem habe der „Agrarfachmann“ die Landarbeiter-Versicherung oder den Milch-Ausgleichfonds eingeführt. „Er war pflichtbewusst, verantwortungsvoll, mitfühlend und sehr religiös“, bilanziert Josefa Schmutz.
Die Familie möchte nicht falsch verstanden werden: Sie bekenne sich zur Demokratie. „Dazu gibt es keine Alternative.“ Doch damals sei der „christliche Ständestaat“ wohl die beste Option gewesen. Ob dieses Fazit auch das neue Dollfuß-Museum prägen wird? Dollfuß sei definitiv ein Diktator gewesen, sagt MERKwürdig-Kurator Remigio Gazzari. Man wolle die ganze Gegend bei der Neugestaltung des Museums einbinden, aber: „Es ist sicher ein Prozess, bei dem wir nicht alle zufriedenstellen werden.“
Dollfuß am Dollfuß-Platz
Auch die Gemeinde Mank hat ein Dollfuß-Problem. Seit 1965 gibt es hier den Engelbert-Dollfuß-Platz – eine Straßenkreuzung mit Verkehrsinsel. Warum die Ehre? 1929 war Dollfuß als Landwirtschaftsdirektor in Mank zu Gast und präsentierte die Landarbeiter-Versicherung.
Dollfuß-Platz in Mank
Dollfuß-Platz in Mank
Dollfuß-Platz in Mank
Dollfuß-Platz in Mank
Anton Hikade (SPÖ)
Während des KURIER-Lokalaugenscheins hält ein Auto an. Darin sitzt Manks ehemaliger SPÖ-Vorsitzender Anton Hikade. Der Pensionist sorgte im September 2022 für Aufruhr, als er die kleinen Dollfuß-Täfelchen am Platz abmontierte und an Museen schickte. Diese schickten sie der Gemeinde zurück. „Sonst wäre es ja ein Diebstahl geworden“, weiß Hikade. Heute weist eine Zusatztafel von MERKwürdig Platz-Besucher auf die Dollfuß-Diktatur hin.
Hikade könnte wohl stundenlang über Dollfuß referieren, selbst bei eisigen Temperaturen. Da gesellt sich ein Herr zur Runde: „Ich heiße auch Dollfuß.“ Mehr will er nicht über sich verraten. Es folgt eine kurzweilige Debatte. Der „Diktatoren-Platz“ sei ein Irrsinn, poltert Hikade. Dollfuß sieht das anders. Für ihn sei Kanzler Dollfuß ein „normaler Mensch“ gewesen. Bei Adolf Hitler sei er sich nicht ganz sicher. Prinzipiell plädiert Dollfuß dafür, die Geschichte endlich ruhen zu lassen, statt sie aufzuarbeiten.
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