Es ist ja nicht so, dass er überhaupt nichts vorzuweisen hätte: Karl Nehammer hat mit seiner Regierungsmannschaft Entlastungspakete im Volumen von 50 Milliarden Euro verabschiedet; unter seiner Ägide wurden jahrzehntelange Forderungen nicht nur besprochen, sondern umgesetzt – die Kalte Progression ist Geschichte, es wird eine Milliarde in eine Pflegereform investiert, die Sozialleistungen werden valorisiert, man könnte auch sagen: regelmäßig angehoben.
Und dennoch, so scheint es, wird dies dem ÖVP-Chef nur bedingt gedankt bzw. zugeschrieben. Die ÖVP schafft bei der KURIER-OGM-Sonntagsfrage nur Platz drei; und bei den persönlichen Werten im Vertrauensindex liegt der Kanzler hinter Parteifreunden wie Magnus Brunner, Florian Tursky und Susanne Kraus-Winkler, von Wirtschaftsminister Martin Kocher gar nicht zu reden.
Heute, Dienstag, jährt sich Nehammers Angelobung als Bundeskanzler.
Wird der 50-Jährige unter Wert geschlagen? Oder kommt er, vereinfacht gesagt, zum Handkuss, weil die Korruptionsermittlungen um die Partie seines Amtsvorgängers unvermindert anhalten?
Selbst professionelle Beobachter sind sich uneinig über die Ursachen für den überschaubaren Erfolg.
„Das Bild der ÖVP ist jedenfalls geprägt durch viele Krisen“, sagt Katrin Praprotnik, Projektleiterin des Austrian Democracy Labs der Universität Graz. Nehammers Kanzlerschaft sei von der Covid-Krise nahtlos in den Ukraine-Krieg und die Teuerungskrise übergegangen. „Und on top auf diesen externen Krisen liegen hausgemachte Krisen der ÖVP, die – aufgrund des Sittenbildes, das sie zeigen – das Vertrauen in die Politik zerstören. Das hat das erste Jahr der Kanzlerschaft massiv geprägt.“
Die spannende Frage ist: Warum wird es Nehammer so gar nicht gut geschrieben, dass er sich – auch – um Gegenmaßnahmen zur Teuerung, der Gas-Not, etc. bemüht? Praprotnik erklärt das unter anderem damit, dass vor allem Reformen im Bereich der Transparenz und Korruptionsbekämpfung fehlen. „Seit Jahren sind große Baustellen wie das Transparenzgesetz, die Abschaffung des Amtsgeheimnisses oder das neue Klimaschutzgesetz offen. Gerade wenn man als Kanzler davon spricht, Vertrauen in die Politik zurückgewinnen zu wollen, wären das wesentliche Bausteine.“
Die Expertin befindet, dass sich Nehammer „zu zaghaft“ vom Vorgänger abgegrenzt hat. Vor allem zu Beginn hätte sich der frühere Innenminister „neu und anders“ aufstellen können, weil die Ära Kurz durch laufende Verfahren und den U-Ausschuss weiter „öffentlich nachwirkt“.
Fehlt also der harte Bruch mit Sebastian Kurz?
OGM-Chef Wolfgang Bachmayer sieht das anders: „Nehammer hat sich auch ohne starke große Worte von Kurz abgenabelt. Unspektakulär und im Wissen um seine Stärken, zu denen die Verbindlichkeit gehört, hat er die Partei klar in Richtung Sozialpartnerschaft und Große Koalition geführt. Das war unter Kurz ein ,no go’“. Der neue ÖVP-Chef betreibe eine „konservative Restaurierung“, die davon absehe, „den Vorgänger aufs Schafott zu führen“.
Thematisch, und das ist bemerkenswert, schließt Karl Nehammer derzeit bei jenem Thema an, das Kanzler Kurz maximal erfolgreich gemacht hat: die Migrations- und Asylthematik.
Bachmayer ortet, dass die Thematik angesichts „eines zunehmenden Zuwanderungsdrucks an Österreichs südöstlichen Grenzen“ wieder zentral für die Menschen geworden sei. Im Unterschied zur FPÖ und deren Parteichef Herbert Kickl seien Nehammer „aufgrund seiner Wesensart und mit dem Blick auf die ÖVP-Wählerschaft“ ein wenig die Hände gebunden. „Er kann nicht die Klientel bedienen, die einfach nur hinhauen will.“
Insgesamt sei der schwarze Kanzler ein „Held des Rückzugs“. Warum? Weil es angesichts der ihn begleitenden Krisen „gar nicht so sehr die Zeit für Ideen und Visionen“ sei. Vielmehr geht es um vergleichsweise Unspektakuläres: „Die Krise zu bewältigen und zu verwalten.“
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