Der Trümmermann: Ein Jahr Kanzler Nehammer

Auch Karl Nehammer kann der Versuchung nicht ganz widerstehen. Im Pressegespräch, das zu seinem ersten Jahrestag als Bundeskanzler am Donnerstag angesetzt war, kam er auf eine ältere Dame zu sprechen. Eine, die ihn in seinem Kurs bestärkte und sich angesichts der Wohltaten seiner Regierung dankbar zeigte.
Anonyme ältere Menschen sind ein gut funktionierendes Argument, weil man schwer etwas dagegen sagen oder den Gegenbeweis antreten kann. Auch Sebastian Kurz verwendete sie immer wieder, um für seine Linie Werbung zu machen.
Das ist aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit, die die beiden in ihrer politischen Kommunikation haben. Kurz liebte marketinggerechte, mundfertige Sprachbilder. „Das Beste aus beiden Welten“ war für Kurz die Koalition mit den Grünen. Wie Nehammer das sieht oder ob es für ihn eher ein „Clash of Civilizations“ sei? Er möge solche überhöhten Sprachbilder nicht.
Nehammer argumentiert, wenn er auf ein Thema angesprochen wird, gerne differenziert. Für schnelle, plakative Lösungsvorschläge ist er nicht zu haben. Mehrfach spricht er von „systemischen Fragen“ und meint damit, dass jede Maßnahme Auswirkungen auf das Gesamtsystem habe und man das immer berücksichtigen müsse.
Karl Nehammer wird nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz am 3.12.2021 erst geschäftsführender ÖVP-Chef.
Am 14.5.2022 wird der Wiener mit 100 Prozent der Stimmen zum ÖVP-Chef gewählt.
Als Regierungschef wird er am 6.12.2021 als Nachfolger von Alexander Schallenberg angelobt.
Von 2020 bis 2021 war Nehammer Innenminister, zuvor Generalsekretär der ÖVP unter ÖVP-Chef Sebastian Kurz
Er wirkt reflektierter als Kurz, wenn er zum Beispiel die Frage, ob Interventionen bei Politikern zulässig sind, zum Kulturthema erklärt. Dann müsse man auch über Anfragen wegen Pflegeplätzen, Ausbildungsmöglichkeiten oder Jobchancen diskutieren. Und das wolle er nicht, denn Politiker seien eben auch dazu da, um für Anliegen der Bevölkerung da zu sein. Die Grenze verortet er dort, wo zugunsten des einen ein anderer benachteiligt wird. Zur Lösung dieser Fragen will er einen Compliance Officer für die Regierung einsetzen.
Die Abgrenzungsfrage
Der Unterschied zu Sebastian Kurz ist aber auch in den Umfragen sichtbar. Die ÖVP war nach dessen Machtübernahme auf über 30 Prozent hinaufgeschossen und war nie wieder unter diese Marke gefallen. Jetzt liegt die ÖVP mit rund 20 Prozent auf dem dritten Platz, und man merkt Karl Nehammer an, dass ihn das nervt.
Nach der Pressekonferenz lässt er ein Papier mit 37 Großtaten seines Kanzlerjahres verteilen. Das reicht von den vielen Maßnahmen gegen die Teuerung über Umweltfragen, die Pflegemilliarde, die Sicherstellung der Gasversorgung, die Aufstockung des Heeresbudgets bis zur Abschaffung der Kalten Progression samt Senkung der Steuersätze.
Warum ihm und dem grünen Koalitionspartner, der ebenfalls in den Umfragen nicht gerade berauschend bei 10 Prozent liegt, die Wähler das nicht positiver anrechnen, scheint ihn ratlos zu machen.

Am 6. Dezember 2021 wurde Karl Nehammer als Bundeskanzler angelobt.
Doch Nehammer und die ÖVP leiden unter den ständigen Korruptionsvorwürfen, Chat-Veröffentlichungen und alleine an der ständigen Nennung des Wortes „ÖVP-Korruptionsausschuss“ im Parlament, der wie ein steter Tropfen den Stein der Glaubwürdigkeit aushöhlt.
Er wirkt wie der Trümmermann der Volkspartei, der die Irritationen über Tonalität und Dreistigkeit seiner Vorgänger aufräumen muss, das richtige Maß an Abgrenzung finden, und daneben noch die Kriegsfolgen, die Migrationskrise, die Teuerung, die Corona-Ausläufer und vieles mehr bekämpfen muss.
Und so sieht er auch einen allfälligen Schlussstrich unter die türkise Kurz-Ära – typisch Nehammer – differenziert. Politisch habe Kurz ja sehr vieles richtig gemacht, die Tonalität lehne er ab, den Rest wird die Justiz zu beurteilen haben.
Und als er gefragt wird, wie sehr ihn das Jahr als Kanzler persönlich verändert habe, spricht er von der Gravitas der Bedeutung, der notwendigen Omnipräsenz, der Verantwortung, vom Privileg des Dienens und seiner Dankbarkeit. Selbst seine größten Kritiker attestieren ihm, dass er das ehrlich meint.
Wenn er für die Volkspartei wieder Wahlen gewinnen und das Kanzleramt retten will, wird er aber wohl ein bisschen mehr aus dem Kurz’schen Marketing-Werkzeugkoffer brauchen, ohne dabei seine Authentizität zu verlieren. Denn seine bisherige Bilanz der Regierungsarbeit „Wir bewähren uns in der Krise“ wird für eine Wende zu wenig sein.
Kommentare