Er wirkt reflektierter als Kurz, wenn er zum Beispiel die Frage, ob Interventionen bei Politikern zulässig sind, zum Kulturthema erklärt. Dann müsse man auch über Anfragen wegen Pflegeplätzen, Ausbildungsmöglichkeiten oder Jobchancen diskutieren. Und das wolle er nicht, denn Politiker seien eben auch dazu da, um für Anliegen der Bevölkerung da zu sein. Die Grenze verortet er dort, wo zugunsten des einen ein anderer benachteiligt wird. Zur Lösung dieser Fragen will er einen Compliance Officer für die Regierung einsetzen.
Die Abgrenzungsfrage
Der Unterschied zu Sebastian Kurz ist aber auch in den Umfragen sichtbar. Die ÖVP war nach dessen Machtübernahme auf über 30 Prozent hinaufgeschossen und war nie wieder unter diese Marke gefallen. Jetzt liegt die ÖVP mit rund 20 Prozent auf dem dritten Platz, und man merkt Karl Nehammer an, dass ihn das nervt.
Nach der Pressekonferenz lässt er ein Papier mit 37 Großtaten seines Kanzlerjahres verteilen. Das reicht von den vielen Maßnahmen gegen die Teuerung über Umweltfragen, die Pflegemilliarde, die Sicherstellung der Gasversorgung, die Aufstockung des Heeresbudgets bis zur Abschaffung der Kalten Progression samt Senkung der Steuersätze.
Warum ihm und dem grünen Koalitionspartner, der ebenfalls in den Umfragen nicht gerade berauschend bei 10 Prozent liegt, die Wähler das nicht positiver anrechnen, scheint ihn ratlos zu machen.
Doch Nehammer und die ÖVP leiden unter den ständigen Korruptionsvorwürfen, Chat-Veröffentlichungen und alleine an der ständigen Nennung des Wortes „ÖVP-Korruptionsausschuss“ im Parlament, der wie ein steter Tropfen den Stein der Glaubwürdigkeit aushöhlt.
Er wirkt wie der Trümmermann der Volkspartei, der die Irritationen über Tonalität und Dreistigkeit seiner Vorgänger aufräumen muss, das richtige Maß an Abgrenzung finden, und daneben noch die Kriegsfolgen, die Migrationskrise, die Teuerung, die Corona-Ausläufer und vieles mehr bekämpfen muss.
Und so sieht er auch einen allfälligen Schlussstrich unter die türkise Kurz-Ära – typisch Nehammer – differenziert. Politisch habe Kurz ja sehr vieles richtig gemacht, die Tonalität lehne er ab, den Rest wird die Justiz zu beurteilen haben.
Und als er gefragt wird, wie sehr ihn das Jahr als Kanzler persönlich verändert habe, spricht er von der Gravitas der Bedeutung, der notwendigen Omnipräsenz, der Verantwortung, vom Privileg des Dienens und seiner Dankbarkeit. Selbst seine größten Kritiker attestieren ihm, dass er das ehrlich meint.
Wenn er für die Volkspartei wieder Wahlen gewinnen und das Kanzleramt retten will, wird er aber wohl ein bisschen mehr aus dem Kurz’schen Marketing-Werkzeugkoffer brauchen, ohne dabei seine Authentizität zu verlieren. Denn seine bisherige Bilanz der Regierungsarbeit „Wir bewähren uns in der Krise“ wird für eine Wende zu wenig sein.
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