Edtstadler: "Die EU muss aus der Krise ihre Lehren ziehen"
Im Mai vor 75 Jahren ging in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Nur fünf Jahre später, am 9. Mai 1950, erstaunte Frankreichs Außenminister Robert Schuman die Welt mit einem ungewöhnlichen Vorschlag:
Sein Land wolle mit dem früheren Erzfeind Deutschland und anderen Staaten eine Gemeinschaft bilden. Deren Mitglieder sollten ihre Kohle- und Stahlproduktion zusammenlegen und von einer übernationalen Behörde verwalten lassen. Diese „Montanunion“ war der Zellkern der heutigen Europäischen Union.
Zum 70. Jubiläum der Rede Schumans sollte heute eigentlich die Erneuerung der Gemeinschaft beginnen: die auf zwei Jahre angelegte „Konferenz zur Zukunft Europas“.
Doch dann kam Corona, die Konferenz wurde verschoben - und die EU geht durch die schwerste Krise ihrer Geschichte.
Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) am Europatag im KURIER-Interview:
KURIER: Ausgerechnet ist eine der großen Errungenschaften der EU, die Abschaffung der Binnengrenzen, ausgesetzt. Muss man das als ein Versagen Europas in der Coronakrise sehen?
Karoline Edtstadler: Ich war 14, als Österreich der EU beigetreten ist. Gerade bei uns, in Salzburg, habe ich das als eine unglaublich positive Veränderung erlebt, als die Grenzbalken aufgegangen sind. Dieser Tage war ich in Laa an der Thaya, hab mir ein Bild an der Grenze gemacht. Die Menschen sind wegen der geschlossenen Grenzen beunruhigt, sie wollen nicht, dass es so bleibt, weil die Regionen so zusammengewachsen sind.
Die EU ist wirklich bei den Menschen angekommen, besonders bei jenen, die in Grenzregionen daheim sind. Jetzt in der Krise wird deutlich, dass wir etwas verloren haben, was schon als selbstverständlich galt.
Andererseits war es richtig, schnell Maßnahmen zu ergreifen und das Virus einzudämmen. Aber jetzt muss man die Lehren aus der Krise ziehen und sich fragen: Wie muss sich Europa künftig anders ausrichten, um für Krisen besser gerüstet und widerstandsfähiger zu sein?
Was müsste sich also ändern?
Wir müssen unsere Technologien stärken, die Produktionsstätten halten, die Abhängigkeit bei Medikamentenimporten verringern. Generell muss sich Europa auf die großen Dinge fokussieren: Klimawandel, Migration, Wettbewerbsfähigkeit - aber ohne bürokratische Hürden aufzubauen.
Aber gerade bei der Migration funktioniert die Zusammenarbeit in der EU doch gar nicht.
Es darf keine Politik des Drüberfahrens geben, man muss mit den Staaten Lösungen finden, die für alle gangbar sind. Die Kommission versucht das gerade und redet mit allen Mitgliedsstaaten, um dann einen Vorschlag zur Asylpolitik zu erarbeiten, mit dem alle Staaten mitkönnen.
Wenn sich die EU auf die großen Dinge fokussiert, und die kleinen Dinge in den Ländern und Regionen gelöst werden, haben wir die Möglichkeit uns neu aufzustellen.
Apropos Region, die Grenzen zu Tschechien, Ungarn, Slowakei etc sind weiterhin zu.
Der Güterverkehr geht durch; Einschränkungen gibt es natürlich noch. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir uns vorsichtig, Schritt für Schritt einer Öffnung der Grenzen nähern.
Wir haben von Beginn an darum gekämpft, dass 200.000 Pendler wieder einpendeln können. Aber ich glaube nicht, dass man gleich wieder in den Süden Italiens oder nach Portugal fliegen kann. Mit unseren Nachbarregionen haben wir gegenseitiges Vertrauen aufgebaut, und man sieht anhand der sinkenden Infektions-Zahlen die Fortschritte.
Dieses Vertrauen und diese regionale Zusammenarbeit, das kann die EU als Über-Drüber-Dach nicht ersetzen.
Die Exitstrategie der Kommission sieht es jetzt genau so vor: Es muss bei den Lockerungen regionale, abgestimmte Schritte geben, um die Krise zu überwinden.
Kann man der EU denn vorwerfen, sie hätte zu langsam reagiert, wenn jeder Staat zuerst einmal seinen eigenen Kurs gefahren ist, Grenzen gesperrt und Masken einbehalten hat?
Wenn sich Staaten nicht auf die Füße gestellt hätten, wären jetzt keine Schutzmasken da. Gesundheit und Sicherheit sind Zuständigkeiten der Nationalstaaten.
Es war wichtig, dass einzelne Staaten diese Maßnahmen treffen konnten und nicht warten mussten. Und es gibt sehr wohl Dinge, wo EU künftig schneller reagieren muss, etwa bei der gemeinsamen Beschaffung von medizinischer Ausrüstung.
Hat Europa die Gesundheitskrise überstanden?
Noch haben es nicht alle Staaten überstanden, und auch bei uns würde ich mich das nicht sagen trauen. Aber wir sind auf einem sehr guten Weg, weshalb wir Lockerungen vornehmen können.
Wird die Wirtschaftskrise die Gräben innerhalb Europas vertiefen?
Sie wird uns noch länger beschäftigen als die Gesundheitskrise. Denn wenn wir einmal einen Impfstoff haben, haben wir die Gesundheitskrise hoffentlich hinter uns.
Es gibt Instrumente zur Bewältigung der Wirtschaftskrise, die EZB, die EIB und das Kurzarbeitsprogramm mit einem Volumen von insgesamt 540 Milliarden Euro.
Auch das neue Budget wird auf die Krise ausgerichtet werden müssen, aber der Green Deal, die Digitalisierung und die Widerstandsfähigkeit der EU sind dafür auch Kriterien. Aber für mich ist das EU-Budget kein Kriseninstrument, sondern es soll Planungssicherheit geben.
Und dann gibt es auch noch den Plan für einen Wiederaufbaufonds. Niemand weiß aber derzeit, wie viele Mittel wir brauchen, um Europas Wirtschaft wiederaufzubauen. Hilfe muss es geben, ja, Geld zu guten Konditionen, aber es muss auch zurückgezahlt werden.
In der Krise werden die Südstaaten den reicheren Staaten, darunter Österreich, immer wieder mangelnde Solidarität vor.
Österreich sagt immer: Natürlich sind wir solidarisch und wollen die Länder unterstützen, weil wir nichts davon haben, wenn sie nicht aus der Krise rauskommen.. Aber es kann nicht sein, dass alte Schulden aus der Vergangenheit ausgeglichen oder neue Schulden vergemeinschaftet werden.
Wird die EU aus der Krise nur schwer geschädigt hervorgehen?
So eine Krise haben wir noch nie erlebt. Aber jetzt müssen wir die historische Chance nutzen, die richtigen Lehren daraus zu ziehen.
Wir brauchen eine Zukunftskonferenz, wir müssen ohne Denkverbote die Regeln überdenken. Wir brauchen einen neuen EU-Vertrag.
Ich habe an meine Europa-Ministerkollegen einen Brief geschrieben, dass man auch in der EU den Prozess aufsetzen muss, den ich in Österreich jetzt starten werde. Er soll in der Coronakrise nicht untergehen.
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