Nehammer: "Wenn der Krieg nicht endet, wird er größer"
Bundeskanzler Karl Nehammer will Vertrauen in seine Partei zurückgewinnen. Der ÖVP-Chef über die Ukraine, seinen Putin-Besuch und die schwierige Krisenarbeit der Koalition.
KURIER: Was unterscheidet Sie von Ihrem Vorgänger Sebastian Kurz, bei dem Sie ÖVP-Generalsekretär waren?
Karl Nehammer: Ich bin ich. Jeder von uns hat eine eigene Geschichte, Prägung, Erfahrung. Ich war mit großer Leidenschaft Generalsekretär und bin seit meinem 14. Lebensjahr für die ÖVP aktiv.
Welche Akzente werden Sie setzen?
Bei der Erarbeitung des Regierungsprogramms wusste noch niemand, welche Krisen das Land erschüttern werden: Pandemie und Krieg, Teuerung, Lieferkettenausfälle, Verknappung der Produktionsmittel. Ein Stück weit geben diese Krisen der Politik die Gestaltung vor.
Anlässlich des Todes von Willi Resetarits haben Sie getwittert, seine Musik und seine Konzerte seien mit Ihrer Jugend verbunden. Ostbahn-Kurt hat das Integrationshaus gegründet, war ein sehr bekannter Exponent der Willkommenskultur. Unterscheiden Sie sich in der Flüchtlingspolitik grundsätzlich von Sebastian Kurz?
Man kann einen Künstler großartig finden, ohne seine politischen Inhalte zu teilen. Österreich hat in der Ungarnkrise und der Tschechenkrise geholfen, später beim Zerfall Jugoslawiens mehr als 100.000 Menschen integriert. Die Ukraine ist uns auch ganz nahe. Davon ist die illegale Migration zu trennen. Jemand, der aus Kriegsgebieten wie Afghanistan flieht, der durchquert bis zu zehn sichere Staaten, hat dort die Möglichkeit, Schutz zu finden: Das ist eine andere Situation als einem in Not geratenen Nachbarn zu helfen.
Muss man sich Sorgen machen, dass der Krieg bis Mitteleuropa getragen wird?
Jeder Tag, den der Krieg länger dauert, erhöht die Gefahr eines großen Krieges. Das betrifft nicht nur die immer gewaltvoller werdende militärische Auseinandersetzung, sondern auch die Ernährungslage auf der Welt. Der Weizen aus der Ukraine geht nach Nordafrika, die Ölsaaten gehen nach Indien. Der Arabische Frühling wurde durch Lebensmittelknappheit und explodierende Preise ausgelöst.
Diplomatische Lösungen sind in weiter Ferne. Sie haben sich ja auch darum bemüht, obwohl Österreich natürlich ein kleines Land ist.
Wir sollten uns nicht immer kleinmachen. Jeder Beitrag ist wichtig.
Was kann das militärische Ziel Russlands sein?
Russland will den Donbass, eine Landbrücke zur Krim und eine Sicherheitsgarantie für die Russische Föderation in der Zukunft. Dass russische Narrativ ist sehr dünn, das habe ich bei Präsident Putin auch so angesprochen. Er sieht sein Land durch die umgebenden NATO-Staaten gefährdet. Allerdings wird die NATO durch den Krieg in Europa jetzt stärker. Und Europa macht sich unabhängiger von russischer Energie. Außerdem ist der Bruder-Mythos zwischen ukrainischem und russischem Volk endgültig zerstört. Letzteres ist für Putin die größte Niederlage.
Was sagen die Geheimdienste zu Bedrohungen wie einer atomaren Wolke aus einem bombardierten AKW oder einer Rakete auf Österreich?
Eine Rakete Richtung Österreich ist nicht zu befürchten. Bei einer atomaren Wolke kommt es auf das Wetter und die Windrichtung an. Folgen, wie es sie bei der Katastrophe von Tschernobyl gab, kann man nie ausschließen. Experten sagen aber, dass es mit den heutigen Reaktoren keine Kettenreaktion in der damaligen Wucht gäbe.
Die Industrie sorgt sich wegen einer möglichen Gaskrise und fühlt sich zu wenig informiert. Hat die Regierung denn einen Plan, falls der russische Gasfluss stoppt?
Selbstverständlich, wir machen es nur nicht in jedem Detail öffentlich, weil sich die Preise erhöhen, je mehr man darüber spricht. Im Hintergrund arbeiten wir mit Hochdruck daran. Das ist ein komplexes Thema, weil es langfristige Verträge, privatrechtlich organisierte Firmen und Pipelines betrifft. Im Budget wurden jetzt 1,6 Milliarden für das Anlegen einer strategischen Gasreserve zur Verfügung gestellt, bei Bedarf weitere fünf Milliarden Euro. Energieversorger werden zur Einspeicherung verpflichtet. Weil das Gas jetzt so teuer ist wie nie, muss ich das abfedern. Wir müssen hier weg von ideologischen Dogmen, hin zu Versorgungssicherheit. Da geht es auch um europäische Projekte, weil es wenig Sinn macht, wenn sich europäischen Staaten untereinander konkurrenzieren und zusätzlich preissteigernd wirken.
Kommen wir in die heimischen Niederungen. Sie haben umstrittene Berater: den Ex-BILD-Chefredakteur Diekmann und Ihre Frau. Welche Rolle spielen sie?
Ich habe so wie andere Bundeskanzler ein Beraterteam. Da gehört auch meine Frau dazu. Interessant, dass das im 21. Jahrhundert noch immer ein Thema ist. Persönlich bin ich froh darüber, weil sie viel Erfahrung hat, sowohl medial als auch auf politischer Ebene. Es wäre geradezu grotesk, mich nicht mit ihr zu beraten. Kai Diekmann berät die Partei und hat uns bei den Besuchen in Kiew und Moskau unentgeltlich unterstützt. Das war sehr wertvoll. Aber er ist nicht unser einziger Berater im Bereich politischer Kommunikation.
Diekmann veröffentlichte sogar Fotos: ungewöhnlich für einen Berater.
Sie sprechen ein Foto mit den Klitschko-Brüdern in Kiew an. Er kennt sie schon sehr lange. Das ist kein Ausdruck von gezielter Präsenz.
Die BILD war immer auf der Seite von Kurz, bei Ihnen war sie sehr kritisch gegenüber Ihrer Reise nach Moskau.
Es haben im Vorfeld auch Experten davor gewarnt, der Kreml würde uns mit Propagandabildern missbrauchen. Das ist nicht eingetreten. Wir haben uns sehr gewissenhaft vorbereitet, und der Kreml hat sich an alle diesbezüglichen Vereinbarungen gehalten. Ich würde diese Reise jederzeit wieder machen, denn jedes konfrontative Gespräch ist wichtig. Der Krieg muss enden. Wenn er nicht endet, wird er größer.
Zurück zu Österreich. Hat sich Ihre Sicht auf Ihren Vorgänger angesichts der vorliegenden Chats geändert?
Es gibt von Sebastian Kurz, so weit ich weiß, keine SMS oder Chats, die auch nur im Ansatz so formuliert sind wie die von Thomas Schmid. Die Art, wie Thomas Schmid über Politik und mit anderen spricht, ist völlig inakzeptabel und hat einen schweren Schock ausgelöst, auch bei den Funktionären der ÖVP. Das hat sich natürlich auch auf unsere Umfragewerte ausgewirkt. Wenn es Verdachtsmomente gibt, sind diese gerichtlich zu klären.
Davon gibt es etliche.
Und fast nichts hat sich bisher bestätigt. Bei Gernot Blümel sind fünf von sechs Verfahren eingestellt. Da gab es das Meuchelgerücht, dass seine Frau absichtlich mit dem Laptop und dem Baby spazieren ging, und es stellte sich alles als falsch heraus. Wir sollten in einer Demokratie die Reife haben zu differenzieren, und nicht in der hysterischen Logik von Oppositionsparteien denken. Schuldsprüche können nur unabhängige und weisungsfreie Gerichte treffen, nicht Behörden und nicht die veröffentlichte Meinung. Ich wehre mich gegen einen Generalverdacht gegen eine ganze Organisation, die die Republik mit aufgebaut hat.
Aber sind nicht auch die Grünen Teil dieser pauschalen Verurteilung der ÖVP? Wie arbeiten Sie mit dem Koalitionspartner zusammen?
Da ich das Koalitionsabkommen mitverhandelt habe, hege ich gegenüber dieser Koalition keinen einzigen naiven Gedanken. Wir waren in dieser Koalition in keiner Sekunde besonders freundschaftlich miteinander verbunden. Es ist eine Arbeitskoalition und ein bislang einzigartiges Experiment in Europa: eine Regierung aus einer linksalternativen und einer bürgerlichen Mitte-Rechts-Partei, die in sehr vielen Punkten diametral auseinander liegen. Diese Koalition hat die größten Herausforderungen der Zweiten Republik zu meistern und ist genau die richtige dafür. Die bisherige Bilanz kann sich sehen lassen. Ohne Ukrainekrieg hätte es heuer ein Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent gegeben. Plus: Schuldenabbau, de facto Vollbeschäftigung, Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte. Das waren früher Parameter, über die man sich gefreut hätte. Wir leben – trotz Krise – in einem guten Land.
Welche Initiativen setzen Sie, um als demnächst neu gewählter ÖVP-Obmann Vertrauen zurückzugewinnen?
Wir werden mit den Grünen ein gutes Parteienfinanzierungsgesetz schaffen, mit dem Medientransparenzgesetz neue Maßstäbe bei der Inseratenvergabe setzen und vielfältige Transparenzinitiativen unterstützen. Es ist meine Aufgabe als Obmann und Bundeskanzler, für die Sicherheit zu sorgen, dass die Politik redlich arbeitet.
Gehört auch das Informationsfreiheitsgesetz dazu?
Klares Ja. Die Kunst liegt darin, es so zu gestalten, dass trotzdem eine effiziente Verwaltung möglich ist und dass „Querulanten“ nicht in der Lage sind, administrative Abläufe zu blockieren.
Sollte Alexander Van der Bellen wieder kandidieren, wird die ÖVP einen eigenen Kandidaten aufstellen?
Aus Respekt vor dem Bundespräsidenten und seinem Amt warten wir ab, bis er sich erklärt. Dann geben wir unsere Position bekannt. Das habe ich auch dem Bundespräsidenten so gesagt.
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