KURIER: Frau Bundeskanzlerin, was wird von Ihrer Amtszeit und der Ihrer Regierung in Erinnerung bleiben – oder was hätten Sie gerne, dass bleibt?
Brigitte Bierlein: Es ist immer schwierig, über sich selbst zu sprechen. Ein Faktum ist, dass ich als erste Frau Bundeskanzlerin werden durfte. Ansonsten hoffe ich, dass diese Regierung die notwendige Ruhe in unser Land gebracht hat – nach einer etwas turbulenten Zeit davor. Dass sie mit Gelassenheit bewiesen hat, dass die Staatsgeschäfte unaufgeregt geführt werden können; dass wir jene Gesetze auf den Weg gebracht haben, die allfällige Schäden von unserem Staat abgewendet haben, etwa durch Vertragsverletzungsverfahren im Bereich des Unionsrechts. Im übrigen haben wir 325 Ministerratsbeschlüsse und 174 Verordnungen vorzuweisen, beispielsweise zu neuen Lehrberufen – es ist also sicher nicht so, dass Stillstand geherrscht hätte.
Ihre Regierung ist die Folge bisher beispielloser Vorgänge, ausgehend vom berüchtigten „Ibiza-Video“: die Entlassung eines Ministers, der Misstrauensantrag gegen eine ganze Regierung … Glauben Sie, dass diese Ereignisse die Republik nachhaltig verändert haben?
Ich denke, dass das schon ein allgemeiner Schock war – und ich hoffe zumindest, dass seither ein gewisser Reinigungsprozess stattgefunden hat.
Haben Sie eigentlich in den letzten Monaten Lust auf Politik als Beruf bekommen oder sich manchmal gedacht: Das wäre etwas für mich gewesen …?
Es war sicher die abwechslungsreichste Zeit meines Berufslebens – die vielfältigen Kontakte im In- und Ausland, die Gipfel in Brüssel, die UNO-Generalversammlung in New York, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dennoch war und ist Parteipolitik nicht das Meine – so gesehen wäre eine Laufbahn als Berufspolitiker nichts für mich gewesen. Wenngleich die Funktion ungleich spannend ist; aber eben besonders spannend und erfreulich in einem Klima, wie wir es in unserer Regierung aus Expertinnen und Experten haben. Was nicht heißen soll, dass Parteipolitiker keine Experten sind – aber eine Regierung wie die derzeitige hat einen besonderen Zugang zu den Dingen – und da macht das Arbeiten besonders viel Freude.
Ihre Regierung hat sehr hohe Zustimmungswerte unter der Bevölkerung. Liegt das nur daran, dass es kaum Polarisierung und Streit gibt, oder könnte das auch noch andere Gründe haben?
Das, was Sie angesprochen haben, ist sicher ein Punkt – der noch mehr wiegt vor dem Hintergrund der turbulenten Ereignisse davor; dazu kommt, dass eine Frau an der Spitze steht, dass die Hälfte der Regierungsmitglieder weiblich ist – das alles kommt, so glaube ich, in der Bevölkerung gut an.
Könnte es auch daran liegen, dass die Leute froh sind, nicht mit Politik im klassischen Sinn, also mit teilweise auch unpopulären Reformen, Entscheidungen behelligt zu werden? Eine solche Politikverdrossenheit wäre ja demokratiepolitisch durchaus kritisch zu sehen …
Da ist sicher auch was dran – dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass es möglichst bald wieder eine „reguläre“ Regierung geben sollte. In unserem Staatsgefüge ist es eben üblich, dass eine Regierung die Verhältnisse im Parlament widerspiegelt und Gesetze auf den Weg bringt – und nicht, wie es derzeit der Fall ist, dass das Parlament im „freien Spiel der Kräfte“ von sich aus aktiv, zum Teil sehr aktiv wird und hier auch Dinge beschließt, die für eine künftige Regierung sehr belastend sein können.
Oft zitiert wurde ihr eingangs ausgegebenes Motto „Verwalten, nicht gestalten“. Ihr Innenminister hat das dann einmal paraphrasiert und gesagt „Verwalten ist gestalten“. Stimmt das?
Diese Regierung hat sicher auf eine bestimmte Art auch gestaltet, aber es ist nicht das Gestalten, wie man es sonst von einer Regierung kennt und erwartet.
Für sich selbst haben Sie ja eine Zukunft in der Politik ausgeschlossen. Sehen Sie in Ihrer Regierung Personen, die sich für eine künftige politische Tätigkeit empfohlen haben?
Das kann ich nicht beurteilen. Die Fähigkeit dazu hätten alle – aber ob das jene, welche die neuen Ministerinnen und Minister aussuchen, auch so sehen, weiß ich nicht.
Es sind ja einiger Ihrer Minister eindeutig mehr aufgefallen als andere …
Das stimmt – jeder hat einen eigenen Zugang, seine Art und Weise, sich gegenüber den Medien und der Öffentlichkeit zu präsentieren – aber darüber hinaus kann ich dazu nichts sagen.
Bei allem Lob für Ihre Amtsführung gab es auch Kritik von Beobachtern, die gemeint haben, gerade eine solche Beamtenregierung hätte ihre parteipolitische Neutralität nützen können, um in heiklen Bereichen wie Parteienfinanzierung oder ORF-Gesetz etwas weiterzubringen …
Das sind sicherlich wichtige Themen – nur aus unserer Sicht sind das Materien, die von einer Mehrheit im Parlament getragen sein sollten; und ich weiß nicht, ob wir, wenn wir dazu eine Regierungsvorlage eingebracht hätten, eine Mehrheit gefunden hätten – das wollte ich nicht riskieren.
Was ist Ihr Eindruck von den derzeitigen Regierungsverhandlungen?
An sich sind das ja übliche Vorgänge nach Wahlen. Außergewöhnlich ist sicher die Kombination von Volkspartei und Grünen auf Bundesebene – das ist neu und sicher nicht ganz einfach, aber ich verfolge das mit Spannung.
Rechnen Sie, dass es bald zu einem Abschluss der Verhandlungen kommt?
Wir arbeiten nach bestem Wissen und Gewissen bis zum letzten Tag unserer Amtszeit – aber diese sollte in absehbarer Zeit zu Ende gehen. Weil eben Gesetze anstehen, Reformen, ein Budget ist zu beschließen, sonst gäbe es ein automatisches Budgetprovisorium. Es wäre also an der Zeit, dass eine neue Regierung die Geschäfte übernimmt – aber ich muss sagen, ich weiß nicht, wie die Verhandlungen stehen; wobei ich es gut finde, dass die Verhandlungspartner nicht alles nach außen tragen.
Glauben Sie, dass die Parteien, die derzeit verhandeln, schlussendlich auch eine Regierung bilden werden?
Ich gehe einmal davon aus.
Sähen Sie Alternativen?
Die wären schwierig, aber rechnerisch möglich.
Was erwarten Sie von der neuen EU-Kommission angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die EU steht – wie etwa die Spaltung zwischen west- und osteuropäischen Ländern?
Es gibt zahlreiche Herausforderungen. Ein großes Thema ist sicher der Brexit, dazu natürlich das Megathema Klimaschutz; die Ost-West-Problematik sehe ich nicht einmal so dramatisch bzw. ich bin aus Prinzip optimistisch. Wir sind sehr dafür, dass Nordmazedonien und Albanien in Beitrittsverhandlungen eintreten können – was immer wieder von einzelnen Mitgliedstaaten infrage gestellt wird.
Die Spannungen zwischen den Visegrád-Ländern und den übrigen EU-Ländern halten Sie gar nicht für ein besonderes Problem?
Das Problem ist sicher vorhanden, etwa, was die Rechtsstaatlichkeit und die Klimaziele betrifft. Insbesondere hat Polen viele Braunkohlewerke – da ist es bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, dass es längere Zeit braucht, um diese stillzulegen und durch alternative Energieformen zu ersetzen. Aber auch die Visegrád-Staaten haben sich zum Pariser Abkommen voll bekannt – mit dem Jahr 2030, das ist schon relativ bald …
Einen Zerfallsprozess der EU, den manche befürchten, sehen Sie aber nicht …
Nein, den sehe ich nicht. Im Gegenteil, gerade nach dem Brexit sollten die übrigen EU-Staaaten umso mehr zusammenhalten, um auch wirtschaftlich neben den großen Blöcken bestehen zu können. Und umso wichtiger wäre es, Nordmazedonien und Albanien, die ja von EU-Ländern umgeben sind, ins Boot zu holen.
Was wird Ihre persönliche Zukunft bringen, wenn Sie das Bundeskanzleramt verlassen?
Ich hoffe auf einen wunderschönen Abschluss hier – und danach auf Freizeit.
Wäre auch eine Kandidatur für das höchste Amt im Staat denkbar?
Es ist zwar eine unglaubliche Ehre, in diesem Zusammenhang genannt zu werden, aber wir haben einen erstklassigen Bundespräsidenten, der hoffentlich für eine zweite Periode zur Verfügung stehen wird. Für mich ist die Kanzlerschaft der Höhepunkt meiner Laufbahn, den ich nie zu erträumen gewagt hätte.
Auch eine parteienübergreifende Anfrage für eine Hofburgkandidatur würden Sie also abschlägig bescheiden?
Ja. Ich weiß nicht, wieviel Lebenszeit mir noch geschenkt ist, ich habe immer sehr viel gearbeitet – und ich möchte noch ein wenig Zeit für Dinge haben, die bis jetzt zu kurz gekommen sind.
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