Asylwerber wider Willen: 37.000 Verfahren verlaufen im Sand
In 49 Prozent der Fälle konnte die Asylbehörde inhaltlich nicht prüfen. Vor allem Afghanen und Inder waren offenbar nur auf der Durchreise, als die Polizei sie aufhielt – und reisten später weiter.
Im Vorjahr wurde an den Grenzen Österreichs ein neuer Rekord aufgestellt: 687 Schlepper wurden festgenommen – so viele wie seit 2015, dem Sommer der großen Flüchtlingsbewegung, nicht mehr. Die hohe Zahl führt Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) auf die „intensiven Kontrollen an der burgenländisch-ungarischen Grenze zurück“. Er sagt das nicht ohne Stolz: Der Kampf gegen Schlepperei und illegale Migration ist sein Kernthema.
Die strengen Kontrollen führen aber auch dazu, dass Migranten angehalten und als Asylwerber registriert werden, die eigentlich nie vorhatten, in Österreich zu bleiben. Sie werden quasi zu „Asylwerbern wider Willen“.
Und das sind gar nicht so wenige, wie ein genauerer Blick auf die Asylstatistik zeigt: Bei rund 76.000 Verfahren, die zwischen Jänner und Ende November 2022 (die Jahresstatistik liegt noch nicht vor) erledigt wurden, gab es bei rund 37.000 Fällen weder eine positive noch negative Entscheidung, sondern eine „sonstige“.
„Sonstige“ klingt nach etwas Nebensächlichem, ist es aber nicht – schon gar nicht in dieser Größenordnung. Was hat es also damit auf sich?
Raus aus Österreich
Auf KURIER-Anfrage im Innenministerium wird erklärt, es handle sich durchwegs um „Einstellungen“, da sich ein Asylwerber dem Verfahren entzogen und Österreich verlassen hat. Etwa, weil er oder sie weitergezogen oder ins Heimatland zurückgekehrt ist. Der Antrag konnte daher inhaltlich nicht geprüft werden.
Der Anteil lag in früheren Jahren zwischen 9 und 22 Prozent, jetzt bei 49. Bei den Afghanen ist er noch höher – nämlich bei rund 72 Prozent. Bei den Indern, die im Vorjahr verstärkt in Österreich aufgetreten sind, sind es 64 Prozent.
Den Asylwerber-Schwund bemerkt man auch in der Grundversorgung. Das ist eben jenes Stadium, in dem man sich befindet, während das Asylverfahren läuft. Dort sind aktuell nur rund 5.500 Afghanen, obwohl fast 23.000 im Vorjahr einen Asylantrag gestellt haben. Noch krasser ist die Diskrepanz bei den Indern: Rund 18.000 Anträge gab es im Vorjahr, aber nur 215 sind in Grundversorgung. In ihre Heimat rückgeführt wurden 300 Inder.
Es zeigt sich: Der Großteil an Afghanen und Indern zieht weiter, ohne das Asylverfahren abzuwarten – und ohne der Staatskasse zur Last zu fallen.
Warum tun sie das?
Lukas Gahleitner-Gertz von der NGO „Asylkoordination Österreich“ erklärt: Inder ziehe es vor allem nach Italien, Frankreich und die Benelux-Staaten, weil sie im Agrarbereich mit offenen Armen empfangen werden. „Diese Länder haben einen unglaublichen Arbeitskräfte-Bedarf. Inder schlagen dort auch nicht in der Asylstatistik auf, sie arbeiten häufig unregistriert.“
In Österreich als U-Boot zu leben, sei viel schwieriger – alleine schon wegen der strengen Kontrollen gegen Schwarzarbeit. Zudem hätten Inder in Österreich keine nennenswerte Community, die sie aufnimmt und versorgt.
Afghanen bevorzugen Deutschland, sagt Gahleitner-Gertz. Dass sie nicht in Österreich bleiben wollen, ist auch dem Asylexperten ein Rätsel, er sagt aber, das „könnte mit der Stimmung seit der Causa Leonie zu tun haben“. Abzutauchen ergebe für sie keinen Sinn: Wer aktenkundig ist, hat Anspruch auf Sozialleistungen, und die Chancen auf subsidiären Schutz stehen gut. Nach Afghanistan wird derzeit nicht abgeschoben; mit Indien gibt es jetzt ein Abkommen, wie das Außenamt am Montag bekannt gab.
Zurück zu den Einstellungen: Einen „Vorteil“ hat diese Art der Erledigung laut Gahleitner-Gertz für die Behörden. Wird in Österreich ein Asylwerber negativ beschieden und zieht weiter, dann könnte ihn das nächste Land, das ihn aufgreift, laut Dublin-Regelung nach Österreich zurückschieben. Wird ein Verfahren aber eingestellt, ist Österreich nicht mehr zuständig, erklärt der Asylexperte.
Krise in Teilbereichen
Was hat es also mit der „Asylkrise“ auf sich, von der die ÖVP-Spitze mit Verweis auf die hohen Asylzahlen spricht?
Die viel zitierten 100.000 Asylanträge im Vorjahr sind in Anbetracht der vielen Einstellungen kein aussagekräftiger Wert, die kolportierten 93.000 Personen in Grundversorgung noch weniger: Bei zwei Drittel davon handelt es sich um Vertriebene aus der Ukraine. Bleiben rund 37.000 „klassische Asylwerber“ – ein Mittelwert im Vergleich mit den Jahren 2019 bis 2021.
Asylexperte Gahleitner-Gertz sagt aber: „Wir haben eine punktuelle Überforderung des Systems, was die Registrierung und die Erstversorgungszentren betrifft.“ In der Grundversorgung gebe es Engpässe, weil die Länder Quartieren abgebaut hätten und der Bereich finanziell ausgeblutet worden sei. Die Unterbringungskrise sei hausgemacht.
Wie es weitergeht? Die Strategie des Innenministers ist weiterhin, dass so viele Schlepper und illegale Migranten wie möglich geschnappt und registriert werden müssen – mit allen Konsequenzen.
Im Burgenland gibt es täglich 100 bis 200 Aufgriffe. Von der Grenzpolizei heißt es, die Zahl habe sich seit Dezember stark reduziert, was wohl an den kühlen Temperaturen lag. Ein genereller Trend lasse sich daraus noch nicht ablesen.
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